Gedanken zu Apg 2,47b –
Die biblische Apostelgeschichte erzählt in den ersten beiden Kapiteln die Gründungsgeschichte der Kirche. Sie lesen sich wie ein Musterstück von Systementwicklung. Das Ende überrascht dabei mit einer Pointe, die es in sich hat.
Hier zunächst der rasante Durchgang:
- Am Anfang wird die zu bewältigende Kontingenz benannt, also die Herausforderung herausgestellt: der Verlust der irdischen Präsenz der Gründungsfigur (vgl. Apg 1,4-12).
- Man probiert es daraufhin zunächst mit einer Lösung 1. Ordnung, in der bewährte Muster verlängert werden. Man tut also das, was man auf dem Hintergrund bisheriger innerer Bilder und Erfahrungen tun würde (vgl. Apg 1,15-26).
- Doch Entwicklung entsteht nicht durch Anwendung bewährter Muster. So initiiert Gott eine irritierende Intervention, die zu einer Musterunterbrechung führt. Denn Kontexterweiterung ist eine mögliche Bedingung für Organisationsentwicklung (vgl. Apg 2,1-4a).
- Daraus ergibt sich unmittelbar der plausible Unternehmungsauftrag. Dieser lautet: kommunikative Anschlussfähigkeit der Botschaft Jesu für alle Menschen (vgl. Apg 2,4b-11).
- Petrus macht daraus direkt was und spricht zu den Menschen in „Leitsätzen“ (vgl. Apg 2,14-40), was hohe Akzeptanz findet (vgl. Apg 2,41).
- Direkte Ableitung sind bestimmte Maßnahmen für das Leben der Gemeinde (vgl. Apg 2,42-47a).
Und dann steht da Apg 2,47b.
„Der Herr ließ täglich weitere Menschen zur Gemeinde hinzukommen, die gerettet werden sollten.“
Mit diesem Satz ist der Aufbaupfad von Organisationen nicht zu Ende. Er gilt auch hier. Apg 2,47b beschreibt nämlich das Kriterium für Wachstum. Ich schaue noch mal hin: Ups!
Apg 2,47b fixiert die Tiefendimension der kirchlichen Sendung
Über diesen Satz kann ich nicht einfach hinweggehen. Er hat eine inhaltliche Tiefendimension für die Sendung der Kirche, die keineswegs singulär im Neuen Testament ist: Jesus sagt
„Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken.“ (Lk 5,31pp)
Der Evangelist Johannes bekennt:
„Gott hat die Welt sosehr geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh 3,16).
Ja, Jesus ist der Retter. Aber wo ein Retter gesandt wird, braucht es anscheinend auch welche, die der Rettung bedürfen.
Ich verweise dabei hier nur am Rande darauf, dass die christliche Spiritualitätsgeschichte diese scheinbar defizitäre Sicht auf den Menschen immer wieder gewinnbringend ausformuliert hat. Für mich besonders prägnant Ignatius von Loyola im „Prinzip und Fundament“ des geistlichen Übungsweges:
„Der Mensch ist geschaffen, um Gott unseren Herrn zu loben, ihm Ehrfurcht zu erweisen und zu dienen und mittels dessen seine Seele zu retten.“
Meinen Fokus lege ich jetzt aber hierauf: Apg 2,47b hat, indem er das Kriterium für Wachstum definiert, auch eine organisationsentwicklerische Seite.
Apg 2,47b ist ein Impuls für Organisationsentwicklung
Wenn wir in unseren Jahren und unseren Breiten feststellen, dass die Kirche nicht mehr wächst, dann kommt man im Betrachten dieses Kriteriums zu interessanten Schlüssen, die zu bisherigen Kraftanstrengungen um Kirchenwachstum einen Unterschied machen.
Apg 2,47b unterbricht das Getriebe, die Kirche „irgendwie“ für die Menschen attraktiv zu machen. Denn es geht nicht um „irgendwen“. Ja, aber geht es nicht um „alle Welt“ und „jeden Menschen“? Nun, betrachtet man den Kontext der landläufig so verstandenen Sendungsaufträge Jesu (Lk 10; Mk 16,15; Mt 28,19), gilt das in Apg 2,47b explizit benannte Kriterium durchaus auch dort, ohne dass damit ein Heilsexklusivismus gemeint ist. Lesen Sie mal nach.
Wenn ich nun Apg 2,47b mit einer OE-Brille auf mich wirken lasse, passiert zweierlei: Ich entspanne mich. Und ich konzentriere mich.
Ich entspanne mich, denn mein Bestreben um Kompensation von Relevanzverlust von Kirche endet. Ich muss nicht Verfall retten. Denn worum geht es in der kirchlichen Sendung? Es geht um Kirchenwachstum. Aber warum Kirchenwachstum? In Apg 2,47b steht es. Darauf konzentriere ich mich.
Vorsicht: Apg 2,47b ist keine Methode, sondern eine Haltung
Wenn ich Anfange zu überlegen, wer denn in unserer Zeit und Gesellschaft gemeint sein soll und ich das vorsichtig abwäge im Versuch, dies ohne meine persönlichen Vorverurteilungen zu tun, mache ich mir klar, dass da steht: Gott fügt hinzu. Das heißt: Ich habe das nicht zu entscheiden. Ich kann auch selber gar nichts machen. Ich muss auf Gottes Wirken achtsam und im besten Sinne empfangsbereit sein. Das führt zu lebendiger Konzentration, für ein Einüben des Blickes Gottes auf die Welt. Wer ist aus seiner (!) Perspektive derjenige, der gerettet werden soll? Ignatianisch gesprochen geht es nicht um „Entscheiden“ sondern um „Unterscheiden“, um Indifferenz.
Drehen wir den Gedankenspieß einmal um – und die kleine gedankliche Provokation ist gewollt: Wenn der Kirche derzeit unterm Strich faktisch keine Menschen hinzugefügt werden, könnte das bedeuten, dass wir in einer schon ziemlich erlösten Welt leben. Eine erlöste Welt braucht die Kirche nicht.
Nun, wenn ich mir den Zustand der Welt und der Menschen in ihr so anschaue, bin ich nicht wirklich davon überzeugt, dass da viele Erlöste unterwegs sind. Vermutlich kommen aber viele Menschen gut genug mit dem Leben klar, dass sie sich gar nicht als zu Rettende sehen. Für sie ist die Kirche als religiöse Instanz das, was Religionssoziologen eine „virtuelle Basisstation“ nennen – sie ist da, wenn es angesichts von z.B. gesellschaftlichen Katastrophen einen Schutzraum und angesichts Übergangssituationen im Leben eine Sinndeutung braucht.
Es geht mir nicht darum, nun irgendwem einreden zu wollen, er müsste gerettet werden. Das steht mir nicht zu. Und wenn ich es täte, wäre ich der erste, der Rettung bedürfte. Nein, dieses Kapitel christlicher Missionsgeschichte haben wir bitte hinter uns gelassen. Und ich gehöre auch nicht zu denen, die der Welt Schlechtes wünschen oder es ihr einreden, nur damit es der Kirche besser geht.
Kirchliche Organisationsberatung mit Apg 2,47b
Für mich als kirchlicher Organisationsberater und Gemeindeentwickler gewinnen angesichts Apg 2,47b aber einige Beratungsimpulse an Bedeutung.
In der Realisierung der kirchlichen Sendung sollten wir stärker auf die zugehen, die zeitlebens oder punktuell die Rettung ersehnen.
Gemeint ist nicht, Caritas zur „Schauseite“ kirchlichen Handelns zu machen. Das wäre mir zu wenig. Gemeint ist der Blick, den Jesus auf die Menschen hatte: „Als Jesus die-und-die sah, hatte er Mitleid“ findet sich wiederholt in den Evangelien. Papst Franziskus hat es einmal zu Mt 14,13-21 so formuliert:
„Angesichts der Menge, die ihm nachgeht und ihn sozusagen nicht in Frieden lässt, reagiert Jesus nicht gereizt, er sagt nicht: »Diese Leute sind mir lästig.« Nein, nein. Er reagierte vielmehr mit einer Empfindung des Mitleids, da er weiß, dass sie ihn nicht aus Neugier aufsuchen, sondern weil sie seine Hilfe brauchen. Aber aufgepasst: Mitleid – das Mitleid, das Jesus empfindet – bedeutet nicht einfach ein Gefühl der Anteilnahme; es ist mehr!“(1)
Was passiert, wenn wir damit Pastoral planen? Also nicht zu sagen „Diese Leute sind mir lästig“ und bestimmte Menschen auszusuchen, denen ich mich zuwenden möchte. Und das Gefühl zuzulassen, dass da Menschen meine Hilfe brauchen – nicht die einer Institution oder eines Konzepts, sondern meine ganz eigene Hilfe.
Ich denke, es würden vermehrt Formen passagerer Pastoral entstehen, katechetische Hot-Spots an Lebenswenden, Angebote zu persönlichem Coaching („geistliche Begleitung“) oder sozialraumorientierte Angebote, welche die Zwischenräume des Lebens befüllen – in einem Villenviertel mag dies das geistliche Konzert als Auszeit sein, in einem sozialen Brennpunkt der Schutzraum einer angemieteten, leeren Wohnung.
Dieser Kulturwandel für pastorale Planung – denn es geht um mehr als neue Programme – würde mitteleuropäisch bürgerkirchlich-familiäre Kirchenidentität hinter sich lassen müssen. Eine Musterunterbrechung. Ja, man fängt an, andere Sprachen zu sprechen. Aber man bleibt im Gespräch.
Systemtheoretische Reflektion der Überlegungen
Systeme arbeiten sich an ihren Kontingenzen ab, also der prinzipiellen Offenheit und Ungewissheit der sie umgebenden Welt. Derzeit tut das die Kirche in extremer Weise. Sie ist verunsichert, kann das Außen nicht deuten, sich dazu nicht verhalten, versucht deshalb oft überall allen alles zu sein und macht ein Konzept und Projekt nach dem nächsten. Sie ist im Mühen um Anschlussfähigkeit aber dadurch mehr außer sich, als bei sich. In gewissen Phasen der Entwicklung ist diese Öffnung, dieses Hinhalten und Ausprobieren nicht nur sinnvoll, sondern notwendig um in der Umwelt erhalten zu bleiben. Aber es ist kein Zustand. Kontingenz wird bearbeitet, indem man sich entscheidet, bestimmte Setzungen macht, „innen“ und „außen“ definiert.
Wie wäre es, Apg 2,47b zu wählen: Kirche ist die Gemeinschaft der Geretteten. Ganze Paulusbriefe werben dafür. In der Kirchengeschichte hat es freilich viele Zerrbilder dessen gegeben (societas perfecta, Selbstverherrlichung), da steht schnell die Angst im Raum, dass sich Geschichte wiederholt. Aber einmal mehr zu versuchen ein gesundes Verständnis dessen zu entwickeln ist eine Überlebensfrage. Denn nur so entsteht Klarheit um die Frage „Wozu Kirche?“.(2)
Also: Warum Kirchenwachstum?
Über das in Apg 2,47b nachzulesende Kriterium lässt sich nicht einfach hinweggehen. Zumindest nicht, wenn man nicht nur einfache Lösungen der Kirchenkrise sucht. Ja, es braucht Kirchenwachstum. In jeder Zeit, auch in unserer Zeit. Aber nicht auf jeden Fall.
Die Bedingung für Kirchenwachstum ist, jeden von allen Menschen mit der ihn befreienden Botschaft Jesu in Kontakt zu bringen. Das erste Qualitätskriterium von Pastoral ist, ob dies gelingt. Nicht, ob das oft gelingt.
Pastorale Organisationen zur geistlichen Ergründung ihrer Sendung zu ermutigen, die Reflexion ihres bisherigen Tuns anzustoßen und in der Gestaltung von Übergangsprozessen zu begleiten ist dabei mein Dienst.
Fußnoten:
(1) https://w2.vatican.va/content/francesco/de/angelus/2014/documents/papa-francesco_angelus_20140803.html.
(2) Siehe dazu auch www.futur2.org/article/wozu-kirche.
Foto: „Gemüsewachstum“, (c) Jan-Christoph Horn