Der Januar-Moment der Kirche

1. 

Was für ein Jahr! Nein, damit meine ich nicht 2020, sondern jetzt: 2021. Ich bin gespannt und neugierig, wie wir als Kirchenmenschen aus diesem Jahr herausgehen werden. Aber: der Reihe nach.

Jetzt ist Januar. Nicht gerade mein Lieblingsmonat. Zu dunkel, zu grau. Die Verheißungen des Jahres ziehen noch nicht so richtig. Der Corona-Lockdown tut – trotz aller Privilegierungen mit Haus, Job, intakter Familie, keine Risikopatienten – das Übrige dazu.

Dunkel, grau, Verheißungen heruntergekühlt. Auch ein Aggregatzustand für die Kirche, finde ich.

Dabei begann das Jahr wie immer: am Wochenfest der Weihnacht, diesem Fest der Einwohnung Gottes inwendig in der Welt. Und die Tradition ist klug: Damit der Impetus nicht verloren geht, wird die Christenheit schon nach wenigen Tagen erinnert: Christus erscheint der Welt. Epiphanie! Erinnert euch daran! Nehmt den Segen, aber auch den Auftrag dessen mit zu euch nach Hause. Und vergesst nicht, dass Christus für alle Welt, alle Generationen, alle Bildungsschichten Mensch geworden ist. Klein, schutzbedürftig und von einer Krise zur nächsten.

In diesem Jahr brauchte ich diese Jahresanfangs-Botschaften besonders, angesichts der medialen Schlagzeilen, die die katholische Kirche über sich selbst produziert hat. Die Menschen, die diese Schlagzeilen produzieren – in den einen Medien hochgelobt, in anderen abgelehnt – sind zu klug, als dass ich sie dumm nennen könnte, sie sind zu lebenserfahren, als dass ich sie naiv nennen könnte. Sie haben anscheinend tatsächlich eine sehr andere Meinung als ich. Was bedeutet das?

2.

Januar – der Monat trägt einen aussagekräftigen Namen. Benannt nach der römischen Gottheit Janus, dem Gott mit zwei Gesichtern. Eingang und Ausgang, Anfang und Ende. Aber auch: So und so.

Das ist auch mein Bild von Kirche zu Beginn dieses Jahres.

Was habe ich nicht alles erleben dürfen in 2020. Und was habe ich nicht alles aushalten müssen in 2020. Beides setzt sich in 2021 bereits fort, so dass ich mich frage: Was soll denn da noch kommen? Auf beiden Seiten.

Würde ich mit dem 1. Januar 2021 oder meinetwegen mit dem Frühjahr 2020 oder meinetwegen vor drei, vier Jahren einen Anfangspunkt setzen, ich sähe zwei Linien, die tendenziell immer weiter auseinanderdriften, kleine Phasen der Annäherung eingeschlossen.

Die eine Linie bezeichnet meine Freude im Glauben und seine Gemeinschaft:

  • Kirchliche Angebote wie die Werktagseucharistie, wo kein Wort zuviel und jedes Wort wichtig ist;
  • übersprießender Gesang neuer (also wirklich neuer) geistlicher Lieder;
  • das Innehalten, sobald Johann Sebastian Bach oder Arvo Pärt erklingen;
  • die Gemeinschaftserfahrungen mit anderen Familien und Eheleuten im Austausch über Glauben und Leben (was in diesen Austauschen das Gleiche ist);
  • das Staunen-nach-dem-Ärgern über die Gelassenheit in Sachen Kirchenentwicklung von Papst Franziskus und seine mich oft ins produktive Nachdenken bringenden Kirchenexerzitien in den Werktagspredigten und manchen Katechesen und Ansprachen.

Die andere Linie bezeichnet mein Hadern mit der institutionellen Kirche:

  • Das öffentliche Auftreten vieler Hirten – vor allem der, die sich auch so nennen;
  • die theologische Sprach- und kulturelle Ahnungslosigkeit in der Gestaltung von 80% aller pastoralen Inhalte – was gar kein schlechter Schnitt ist, auch viele Waren im Supermarkt werden nicht verkauft, aber es braucht sie für die Frequenz des Geschäfts. Doch in Kirche ist man mit den Ladenhütern häufig zufrieden. Mir fehlt das Streben nach, sagen wir, 35% passenden Angeboten;
  • die Angst vieler Hauptamtlichen und engagierter Mandatsträger*innen, wenn es darum geht, mit den von anderen erwarteten Kirchenreformen im eigenen Wirkungskreis teilmächtig selbst zu beginnen, möge es auch die eigene Rollenidentität und organisationale Sprachspiele wie die Rede von der ‚Gemeinde‘ verändern;
  • die politische und ethische Systemirrelevanz christlicher Prediger*innen in Zeiten, wo die Medien und die Leute danach gefragt haben.

3.

Mein persönlicher Zugang und mein eigener Umgang mit mir in Kirche haben sich mit der Zeit verändert. Ich identifiziere mich mehr mit dem Aufbau der Glaubensgemeinschaft als soziale und geistliche Wirklichkeit als mit der Pfarrei als institutionelle Größe, die ihren Auftrag und Dienst nach allen Regeln professioneller Organisationsführung bitte einfach erledigen sollte. Ich bin weniger Prediger, dafür mehr Anstupser. Ich bin (bald) kein Mandatsträger mehr, dafür lese ich, vor allem nicht-kirchliches.

Unabhängigkeit, um der gewollten Nähe willen. Nicht auf Distanz, nicht auf Bewährung. Keine Trennung, dafür fühle ich mich in Kirche zu integer und ihr gegenüber loyal. Kein Aufgeben, dafür liebe ich meine Kirche zu sehr. Jeder hat ja mal schlechte Tage.

Ohne solch resonante Beziehung scheitert jede Kommunikation. Ich, der ich Veränderungen in den Epistemen der Kirche möchte, bin bereit zu diskutieren, auch theologisch, zu lernen und konkret zu werden und den Moment des Schon-und-noch-nicht mit zu halten und zu gestalten. Allein mir fehlt der Zugang zu denen, die aus meiner Sicht bremsen, zögern, verzagen und kulturell pessimistisch sind. Sie sind genauso nicht-greifbar wie der Corona-Virus, aber schaffen es in alle Medien. Und während ich meine Maske raushole und auf die Wirkung einer Impfung hoffe, mutieren die schön weiter.

Der Januar-Moment der Kirche. Ich glaube, es geht vielen im Moment so. Auch denen, die sich schon entschieden haben und mehr oder minder schnell das Weite suchen. Suchen wir nicht alle das Weite? Manche noch in der Kirche. Es ist ein Prozess, ein Abnabelungsprozess von einer bestimmten Form von Kirche. Ein Abnabelungsprozess ist ein Geburtsvorgang. Mutter Kirche hat Schmerzen dabei. 

4.

Lesehinweis: Die folgenden Nummern 4 bis 6 begründen mein Bild vom ‚Januar-Moment‘ systemtheoretisch. Mit System, aber halt theoretisch, bei allem Bemühen, die Theorie durch das ein oder andere Beispiel zu erläutern und auch den Bezug zur Kirche nicht zu verlieren. Ich lade ein, das Lesetempo zu drosseln, weil die konstruktivistische Systemtheorie als Erkenntnistheorie einige Dinge anders denkt als kausales, zweiwertiges Denken, zu dem uns unser Gehirn – alltagsphänomenal aus guten Gründen – einlädt. Ab der Nummer 7 wird die Theorie dann auf Kirchenpraxis bezogen, die Nummer 11 ist inhaltliches Resümee, die Nummer 12 gibt drei konkrete Impulse, die aus der bis dahin erarbeiteten Haltung ‚Programm‘ macht.

Dieses einerseits/andererseits – aus systemischer Perspektive ist es entscheidend, dass es das gibt. Der Januar-Moment – er ist systemrelevant für die Kirche. 

Denn ein System entsteht aufgrund unentscheidbarer Fragen, die auf eine Weise entschieden werden. Die Gleichmöglichkeit verschiedener Möglichkeiten (Kontingenz) bzw. die nicht lösbare Komplexität in den Bedingungen zur Entscheidung einer Möglichkeit unter anderen wird durch ein bestimmtes System aufgelöst. Ein System reagiert immer auf das Problem der Uneindeutigkeit. Wäre etwas eindeutig, bräuchte es kein System dafür.

Einmal ausgelöst, fängt das System an, nach den Bedingungen, die es selber durch die Unterscheidung erzeugt, zu operationalisieren. Als hätte es nie etwas anderes gegeben. Die Entscheidung, die das System von dem trennt, was durch die Unterscheidung seine ‚Umwelt‘ geworden ist, wird ständig reproduziert (manchmal: koste es, was es wolle), weil das Ende des Unterschieds das Ende des Systems wäre. 

Etwa so: Ein kluger Gedanke fragte sich, was er tun soll. Er entschied irgendetwas, tat das, fühlte sich gut dabei, hielt die Tat fortan für die einzig richtige Möglichkeit – um sich in seiner Entscheidung nicht zu widersprechen – und tat es immer wieder. Und viele, die das sahen, staunen und meinten: „Das ist aber klug!“ Andere sagten: „Das ist dumm.“ Wer hat recht?

Ein System ist die Einheit einer Differenz zwischen System und Umwelt

Manchmal kann ich diese Einheit einer Differenz körperlich spüren. Es ist ein Beben in der Körpermitte, ausgelöst z.B. durch Fremdschämen oder Fassungslosigkeit bei gleichzeitig brennender Liebe zu Christus und der Faszination über geistbegnadete Menschen um mich herum. Und ich verstehe: Die Differenz ist nicht ein zu überwindender Umstand. Sie ist die Kraft, die mich antreibt. Wäre alles entschieden, wäre alles egal.

5.

Systemtheoretisch ist weiter formuliert, dass der Beobachter, der einen Unterschied macht (denn konstruktivistisch verstanden ist es ja immer ein Beobachter, der ein System ‚macht‘), Möglichkeiten hat, die Weise der Differenz zu verändern. Die Differenz zwischen System und Umwelt kann anders gelegt werden und damit andere Anschlüsse oder Verbindungen erzeugen, also andere Bewertungen und Tätigkeiten in der Operationalisierung der Differenz. Kriterium ist, dass sich das System eine Lösung für die unentscheidbare Frage, die es bearbeitet, erhält. Das Kriterium heißt Viabilität/Gangbarkeit. Hauptsache, es funktioniert. Muster, Standards und Normen folgen aus der Funktionalität, sie sind nicht Teil der Funktion. 

Aufgrund der Rekursivität der Unterscheidung – die Unterscheidung fällt ständig auf sich selbst zurück, weil sie ja nicht kontingent, sondern entschiedene Kontingenz ist – wird beständig danach gefragt, ob der Ausschluss nicht doch einen Unterschied macht. Das System kann ja nicht auf etwas anderes zurückgreifen, um zu wissen.

Simples Beispiel: Der Start-Knopf auf der Kaffeemaschine stellt den Kontakt des Kaffeeproduktionssystems Kaffeemaschine zu seiner Umwelt her. Dieses System reproduziert ständig die Differenz zwischen den Funktionsweisen des Systems und seiner Umwelt ‚Einwirkung auf den Knopf‘. Wird der Knopf gedrückt, wird die Umwelt ‚Knopf gedrückt‘ zur relevanten Umwelt, weil das System darauf eingestellt ist, dann zu reagieren. Die Kaffeemaschine kann also jahrelang vor sich hin stehen, ihr wäre alles um sie herum kontingent. Bis zu diesem einen entscheidenden Moment. Auch wenn der Anwender auf die Maschine drückt, aber neben den Knopf, entsteht kein Kaffee. Vielleicht fällt die Maschine durch den Druck um oder der Anwender sagt ‚Ist kaputt‘. Das Kaffeeproduktionssystem aber könnte sagen: „Hä? Ist was passiert?“, weil es darauf eingestellt war, nur diesen bestimmten Knopfdruck als seine relevante Umwelt zu erkennen. 

Systeme sind die beobachtete Einheit einer Differenz von System und Umwelt. „Beobachte deine Umwelten, ob sie relevante Umwelten sind.“ Ohne Beobachtung einer Unterscheidung passiert nichts. Und wenn es keine Beobachtung mehr gibt, ist das System im gleichen Moment eliminiert. Wenn es also keine Spannung in der Kirche gäbe, kein so-oder-so, keinen Januar-Moment, wenn alles entschieden wäre, wäre es nicht nur ziemlich langweilig, ohne Beobachtung der Unterscheidung einer unentscheidbaren Frage wäre alles, was Kirche tut, unbedeutend, weil kein Unterschied mehr reproduziert wird, keine Lösung für ein Problem mehr konstruiert wird. Eine Kirche, die sagt, sie hat keine Probleme, hat ein Problem.  

6.

Wenn es also nicht darum geht, Probleme zu lösen, geht es dann darum, wie man nicht lösbare Probleme bearbeitet? Ja!

Während man mechanischen Systemen nicht nahelegen kann, doch auch auf den Druck neben dem Knopf anzuspringen, besteht die Möglichkeit, dass psychische und soziale Systeme (und, dies nur am Rande, auch biochemische Systeme, wie zum Beispiel Corona-Viren) ihre Reaktionsmuster auf ihre beobachteten Umwelten verändern, weil es ihrer Viabilität nützt. Wenn Systeme denken könnten, könnten sie denken: „Besser auf etwas anderes reagieren, als aufhören zu existieren.“ 

Dieses Vermögen ist der Grund für jeden systemisch-therapeutischen Prozess, in dem nicht das Unbewusste analysiert wird (was nicht möglich ist, denn dann wäre das Unbewusste ja nichts unbewusstes mehr), sondern seine Muster und Wirkweisen verändert werden sollen. 

So wird nicht die Aggression des Ehemannes ‚therapiert‘, denn diese scheint für irgendetwas nützlich, auf irgendeine Weise die Bearbeitung einer Kontingenz, einer unentscheidbaren Frage, zu sein. Es wird daran gearbeitet, dass er seine Aggression nicht gegen seine Ehefrau richtet (wenn diese das als Problem empfindet und eine strukturelle Koppelung ihrer z.B. Schmerzen mit dem Verhalten des Ehemanns beschreibt). Systemisch ist nicht der Inhalt der Unterscheidung als solche, sondern seine Wirkung und die dahinterliegende Funktion im Blick. Die Therapie besteht dann darin, dass der Mann in die Lage kommt, sich selber zu beobachten, Funktionszusammenhänge zu erkennen (‚Wann schlage ich? Wann schlage ich nicht?‘) und dadurch zur Möglichkeit gelangt, andere Handlungs-Entscheidungen zu treffen, um mit seinen Aggressionen umzugehen. Dadurch wird nicht die Differenz aufgelöst, aber ihr ‚Ort‘ wird verändert. Manchmal scheint es, als würde die Aggression verschwinden, sie wäre ‚wegtherapiert‘. Aber das stimmt nicht. Ihre funktionale Vermusterung wird nur nicht mehr (vom Beobachter) als Problem interpretiert. 

Aus Veränderungsperspektive ist diese sogenannte Akkommodation der Assimilation vorzuziehen, weil letztere sich Dinge ins System einverleibt, in ersterem das System eine Anpassungsleistung in seinen selbstgemachten Umwelten vollzieht. Auf Kirche hin formuliert: Wenn Evangelisation – Programmwort unserer Tage – bedeutet, dass sich das Lehramt alle Positionen, die durch poststrukturalistische Gedanken in der globalisierten und euphemistischen Freiheitswelt des 21. Jahrhunderts entstehen, nimmt und in die bestehende Ordnung einfügt, reden wir über Assimilation. „Der Kirche waren die Frauen schon immer wichtig. Und im Grunde haben Frauen immer schon Führungspositionen in der Kirche gehabt, denkt an die Frauenorden.“ Der Umgang mit neuen Elementen kann auf diese Weise durchaus gelingen, aber es verändert sich nichts. Wenn Evangelisation aber bedeutet, dass sich die Kirche im Kontakt mit den zu evangelisierten Elementen selber verändert, reden wir über Akkommodation. Die Evangelisation der Kirche ist dann auch Selbstevangelisation der Kirche. „Weil nicht nur neu, sondern neuartig über die soziokulturelle und biologische Rolle der Geschlechter entschieden wird, müssen wir als Kirche neuartig über die Rolle der Frau reden.“

Ein weiteres wichtiges Prinzip der Akkommodation – das muss für alle, die sich eine ‚andere Kirche‘ wünschen, dazugesagt sein – lautet: Eine Akkommodation in Systemen gelingt nur aus den Bestandteilen des Systems heraus. Es kommen keine ‚neuen‘ Bestandteile hinzu, die vorhandenen Bestandteile können nur reorganisiert werden, wodurch manche mehr Aktivität erhalten, andere weniger. Der Unterschied zwischen einer kranken und einer gesunden Zelle ist ja auch nicht eine andere Substanz – Zelle ist Zelle –, sondern nur eine unterschiedliche Organisation, ein unterschiedlicher Aufbau der in beiden Zellen identischen Elemente. (Man ersetze in diesem letzten Satz einfach ‚Zelle‘ durch ‚Kirche‘.) Die Selbstevangelisation der Kirche bezieht sich somit auf das Evangelium, dass die Kirche in sich trägt. Ein anderes Evangelium gibt es nicht. Aber so wie aus der gleichen Zell-DNA sehr unterschiedliche Menschen herauskommen (und nicht wenige bereits vor der Geburt sterben), weil es Abermilliarden von Möglichkeiten der Zellorganisation gibt, so kann Kirche auch sehr, sehr viele Formen annehmen – und ist doch ‚genetisch‘ die gleiche Kirche. Die Diskussion über die Bedeutung von Diversität in den Rechtsstrukturen eines Staates, z.B. mit Blick auf Grundrechte und Lebensgemeinschaften, zeigt auf, welche Diskussion auch in der einen, aber mannigfaltigen Kirche zu führen sein müsste. Es geht nicht um entweder-oder, es geht um sowohl-als-auch.

7.

Die Kirche ist ein Leib, der fortwährend in der Krise ist, gerade weil er lebendig ist.

Papst Franziskus

Der Januar-Moment der Kirche. Nur aus der Spannung, aus dem so und so, der Einheit einer Differenz erwächst die Möglichkeit für Leben und für Entwicklung. Deswegen sagt man, dass jede Krise eine Zeit der Entscheidung ist – von letztlich unentscheidbaren Fragen. Es geht nicht darum, wie die Antwort lautet, es geht darum, mit der Unterscheidung nicht aufzuhören. Es geht nicht darum zu beobachten, warum sie ist, wie sie ist, sondern was sie anstellt. Es geht um die Kompetenz, mit der Unentscheidbarkeit von Fragen umzugehen, daraus ‚System‘ zu machen. Der Modus ist wichtiger als der Akt. 

Ich möchte in dieser Weise mein Angebot machen zwischen dem, was Kontingent ist und dem, was Kirche ist, wohlwissend, dass die Differenz keinen Anspruch darauf erheben kann, die richtige Differenz zu sein, wahr zu sein. Wahrheit gibt es nur als Beobachtung. Für mich macht die Differenz aber einen Unterschied, mit dem ich Kirche dann entschieden operationalisieren kann. Vielleicht finden das andere klug. 

Ich finde: Wir müssen uns aus dem Evangelium heraus für das Leben entscheiden und uns dann, also anschließend, darüber streiten, was Leben ist. Denn was haben wir gefeiert: Weihnachten! Epiphanie! Neujahr! Gott unterstellt sich die Welt nicht, er stellt – nein: legt – sich mit dem Wertvollsten, was er hat, weil es ihn selbst weiterträgt, seinem Kind, in die Welt hinein. 

Leben als entschiedene Differenz zu Nicht-Leben, als Unterschied, der einen Unterschied macht, ein System konstruiert. Und dann schauen, was das bedeutet. Nicht mit der Einheit beginnen, sondern mit der Differenz, die den Unterschied erstmal macht (und viele Mitmenschen halten den Unterschied, den wir machen und verkünden und ‚Glaube‘ nennen eh für ziemlich bekloppt und unzeitgemäß) und uns zusammenführt. Und dann schauen, wie der viable Umgang funktioniert, der die Differenz mehr anstatt weniger produziert. Also nicht über die Differenz streiten, sie gar aufzuheben versuchen, sondern die Einheit der Differenz zum Wesensprinzip der Kirche machen. Nicht „Einheit in Vielfalt“ als Notprogramm überforderter Führung oder Werbebotschaft für pastorale Beliebigkeit, sondern „Einheit im Unterschied“ als Grundverständnis. Lieben wir die Probleme, die uns die Unbeantwortbarkeit der Frage macht. Nicht die Antworten, sondern das Fragen machen die Kirche stark und halten sie lebendig.

Die Viabilität, die Gangbarkeit dieser Differenz in der Kirche zuzurufen heißt: Lebt mit ihr! Und trefft Entscheidungen. 

Ich möchte von der Viabilität dieser Differenz dem synodalen Weg zurufen, von dem mir alle, die dabei sind, erzählen, dass es eine gute, aber keine entscheidend gute Atmosphäre dort hat.

Ich möchte von der Viabilität dieser Differenz meiner Bistumsleitung zurufen, im Fragen nach den Möglichkeiten vielfältiger Leitung, damit diese nicht nur eine vervielfältigte Leitung ist und Engagementförderung nicht nur eine Fortsetzung dessen, was man bis 2020 Ehrenamt nannte und die auch hauptberufliche in Pastoral, Verwaltung und sozialen Diensten in ihrem Engagement einschließt.

Ich möchte von der Viabilität der Differenz denjenigen in Führungsverantwortung in den Pfarreien zurufen, angefangen bei meiner eigenen, die in meinen Augen einer Verwechslung unterliegen: sie tun ihre Dinge für die gegenwärtige Zukunft anstatt für die zukünftige Gegenwart.

Na klar, das sind meine Beobachtung, meine Gedanken, wie die Differenz Leben produziert. Andere Beobachter*innen sehen anderes. Ich meine auch gar nicht, in allen Beobachtungen Recht zu haben. Ich weiß allein aufgrund der Unterscheidung nicht, wie es funktionieren kann. Ich wünschte mir nur, dass wir beobachten und kommunizieren und probieren, welche Unterscheidungen unsere Muster und Regeln machen und ob Leben dabei herauskommt. Mir geht es nicht darum, welche Muster und Regeln es sind oder ob sie ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ sind. Sondern nur, ob sie funktionieren, ob sie viabel sind. Eine Kirche, die Leben hervorbringt, kann tausende viable Weisen dafür haben. Wenn wir uns daran aufhalten, die eine ‚richtige‘ zu suchen, verlieren wir unsere Differenz. 

8.

Nicht die Differenz zwischen Position A und Position B ist das Problem, sondern wenn die Differenz den Unterschied nicht mehr reproduziert, mit meinem Wort: Leben erzeugt. Mit Blick auf die Kirche als soziales System sei also darauf hingewiesen, dass diejenigen, die eine andere Meinung haben als ich, meine entschiedenen Umwelten sind. Ein System arbeitet sich nicht an der Umwelt ab, sondern produziert sie. Denn ohne Umwelt kein System, ohne Umwelt wäre ja alles entschieden. Deswegen bekommt jedes System die Umwelt, die es sich erarbeitet.

Einfach gesagt: Diskussion hält lebendig. Nur warte man nicht darauf, dass die Diskussion die Antwort produziert. Die Produktionsmuster in einem System entspringen nicht der Differenz, sondern der mit dem Kriterium der Vialbilität entschiedenen Differenz. Deswegen: Macht irgendwas, aber macht endlich was! 

9.

Und dann ist da noch der unmarkierte Raum. Das ist der Bereich, den es noch zu unterscheiden gilt. Hier ist noch alles kontingent. Also alles egal und alles möglich.

Dort sind all die Bischöfe, Führungskräfte, Pastoralwerker, Mitglieder, die, wie man so sagt, weder Fisch noch Fleisch, weder tot noch lebendig sind. Sie leisten keinen Beitrag zur Differenz, eben weil sie sich nicht entschieden haben bzw. genauer: weil sich entschieden haben, zur Reproduktion der Differenz zwischen Leben/Nicht-Leben keinen Beitrag zu leisten, was die Reproduktion eines anderen Systems fördert, das zu reproduzieren für sie anscheinend mehr Sinn macht. Für eine Kirche, deren System die Einheit der Differenz von Leben/Nicht-Leben ist, ist das jedenfalls kein Beitrag. Kirche ist dann irgendetwas anderes, weil es etwas anderes unterscheidet. Zum Beispiel Macht/Demütigung, Männer/Frauen oder Proporz/Einfachheit. 

„Wir sind viele.“

Jesus lässt solche Geister in den Abgrund rennen.

10.

Die Antwort nach dem ‚richtigen Leben‘ bleibt systemtheoretisch formuliert unentscheidbar und alles, was ich darüber sage, sagt mehr über mich als über das Leben und seine Unterscheidung. Das was ‚richtig‘ ist, ist eine funktionale Praxiologie. Also sehen wir nach und machen was draus und solange das, was wir tun, funktioniert – also mehr Leben hervorbringt – tun wir mehr davon. Und wenn wir uns streiten, was und wann und wie etwas mehr Leben hervorbringt, dann gehen wir erst recht raus und beobachten das Leben, immer im Wissen: Vielleicht ist ein anderes Tun passender. Ein System ist operational geschlossen (… es kann nicht ständig alles tun), aber energetisch offen.

Jesus sagt dazu: „Habt keine Angst.“ Die Beobachtung der Reproduktionsfähigkeit der Differenz und nicht die Überwindung der Differenz (z.B. durch Rechthaben-behaupten) ist die Führungsaufgabe.

An einem prominenten Beispiel: Ob Frauen Priesterinnen sind oder nicht ist für das Leben der Kirche inhaltlich unerheblich. Hauptsache die Reproduktion des Systems gelingt – mit meinem Wort: es entsteht mehr Leben. Das ist eine für Fürsprecher*innen wie Gegner*innen der Frauenweihe gleichermaßen irritierende Aussage, weil es beiden ja in ihren Argumenten um das Leben der Kirche geht. Wenn aber Fürsprecher*innen wie Gegner*innen die Weihe als ‚Über-leben-sfrage‘ der Kirche bezeichnen, möchte ich zurückfragen: Für welches System ist dies überlebenswichtig? Für die Reproduktion welcher Unterscheidung? Ich bestreite nicht die Wichtigkeit dieser Frage (und habe für mich eine Antwort), schaue aber nüchtern von der Einheit der Differenz zwischen Leben/Nicht-Leben darauf.

Wenn Frauen Priesterinnen werden sollen, weil die Rolle des Geschlechts im 21. Jahrhundert anders beschrieben wird als vor 2000 oder 200 oder auch 20 Jahren, weil es ein Glaubwürdigkeitsproblem beseitigt und einfach zeitgemäß ist, aber nicht, weil es Teil der Selbstevangelisation der Kirche ist, die – so meine Entscheidung – beauftragt ist, Leben in Fülle zu bringen – die Anwendung ihrer eigenen Unterscheidung auf sich selbst, die Form ihrer Existenz – hilft die Frage nicht und auch nicht ihre Beantwortung, egal wie sie ausfällt. Das Kriterium ist nicht, ob die Frauenweihe ‚richtig‘ ist. Das Kriterium lautet, ob sie das System in der Bearbeitung ihrer Kontingenz reproduziert. Vielleicht ist sogar anderes noch wichtiger? Puh! Eine von jedem einzelnen Standpunkt aus unentscheidbare Frage, weil man es nie vor dem Tun wissen kann. Also gehen wir hin, probieren was aus und schauen, was passiert. Oder probieren es nicht aus und schauen nach, was passiert. Das heißt, nicht das ‚letzte‘ Argument, sondern seine Wirkung auf die Reproduktion der Unterscheidung zu be(ob)achten. 

11.

Zukunft entsteht nur dort, wo Handlungsräume geschaffen werden.

Jagoda Marinier

Die Einheit einer Differenz angesichts letztlich unentscheidbaren Fragen als Form der Kirche. Der Januar-Moment als konstitutives Moment des Kirche-Seins.

Wir haben alles erforscht, wir haben alles ergründet, wir haben alles in programmatischen Schriften verfasst, wir finden für jede Position ein finales Argument. Und, was hilft das? Es gilt, das Argument zu leben und zu schauen, was passiert. Keine Kommission, keine Beratung verändert etwas, sondern das veränderte Handeln z.B. nach einem Synodenbeschluss oder einer Beratung. Streitet euch also nicht über jedes Wort und seine Bedeutung, wenn es um das Leben geht. Das Leben kann sich nur durch das Leben reproduzieren. 

Es gilt in der Praxis zu sehen, ob sich das System als Einheit der Differenz von Leben/Nicht-Leben viabel reproduzieren kann. Natürlich: da in Organisationen nicht immer alles gleichzeitig produziert werden kann – die Arbeitsteiligkeit charakterisiert sie –, definiert Bereiche, in denen der Unterschied zwischen Leben/Nicht-Leben einmal anders funktionalisiert wird. ‚Ad libitum‘ heißt das Prinzip im gregorianischen Choral, ein ‚System je-nachdem‘. Solange ihr es lediglich ‚Ausprobieren‘ oder ‚Experiment‘ oder ‚Innovationsraum‘ nennt, seid ihr nicht entschieden, Leben zu produzieren, sondern dabei Unsicherheit als Folge von z.B. Angst (vor dem, was in der Organisation anscheinend stärker operationalisiert wird als die Unterscheidung zwischen Leben/Nicht-Leben – womöglich ihre eigene Existenz?) zu bearbeiten. 

12.

Der Januar-Moment, der Moment der Erinnerung an die Unentscheidbarkeit, in die aber von Weihnachten her Leben als Unterschied hineingelegt ist – wie rüstet er für 2021 aus? Ich sehe drei – keineswegs neue – Bereiche, in denen die Unterscheidung zwischen Leben und Nicht-Leben deutlicher markiert sein müsste und rege an, wie dieser Unterschied operationalisiert sein könnte. 

A) Lust darauf, kleine Organisation zu sein

Die Organisationsaufgabe, die vor uns liegt, lautet Organisationsverkleinerung. Das meint: Aufgabe von Geschäftsbereichen und Standorten, Anpassung der Prozess- und Entscheidungswege. Verlernen bzw. Entlernen wird wichtiger als Neulernen bzw. kleine Organisation zu sein, ist neu zu lernen.

Das, was die Organisation von Kirche dann nicht mehr erreicht und bedient und absichert, dem Wirken Gottes anzuvertrauen wird dafür Teil der Selbstevangelisierung. Was für eine disruptive Innovation! Wir müssen nicht allen alles werden, weil schon einer allen alles ist, ganz ohne uns. Kirche zu gestalten ist ein Drahtseilakt – und Gott ist der, der schiebt.

Eine geschrumpfte Organisation ist, was wichtig zu verstehen ist, keine große Organisation nur in klein, sondern eine kleine Organisation, in der man Dinge anders machen muss (und kann und darf), als in großen. Wenn die Organisation nicht merkt, dass sie klein ist (nicht: kleiner), gelingt das nicht. Das ist etwas, was sich jede und jeder konkret fragen kann: Merke ich das? Oder läuft hier alles noch wie vor 15 Jahren? Leitfrage in allem Handeln ist die Differenz! Wie reproduzieren wir also als Organisation den Unterschied von Leben/Nicht-Leben unter den heutigen Bedingungen? Welche Umwelten beobachtet unser System? Etwas drastisch: Jede Kirche bekommt die Pandemie, die sie sich erarbeitet.

Nehmen wir uns in Sachen Organisationsverkleinerung etwas vor. Das Pfund ist ja, dass wir ohne Liebe zur Organisation schon längst nicht mehr hier wären. Das Problem ist gleichzeitig, dass wir stetig, jeden Tag, die Unterscheidungen, die andere Systeme in der Kirche stabil halten, von denen wir uns aber lösen wollen, mitproduzieren. Irgendetwas hält uns in diesen Systemen, weil uns darin etwas hält. Wir sind somit Lösung und Problem zugleich. Wir müssen uns also selbst irritieren, damit sich die Organisation irritiert, hinterfragt, andere Möglichkeiten entdeckt, was Bedingung für veränderte Unterscheidungen ist. Also: Lobe deinen Bischof, mache keine Überstunden, hinterfrage freundlich jedes vierte Mal den Sinn der vorhandenen Geschäftsvorgänge.

Die immer mal wieder zu hörende Forderung nach einer flachen Hierarchie als einzig mögliche Organisationsform kleiner Organisationen ist dabei nicht nachvollziehbar, wenn auch für ein bestimmtes Bild von Kirche erstrebenswert. Der Wunsch versucht nämlich verschiedene Dinge zusammenzubringen, was es kompliziert macht. Aber auch kleine Organisationen können sehr hierarchisch sein, während große Organisationen flach hierarchisiert sein können. Entscheidend für den Übergang einer großen Ämtermonarchie in eine flache Getauftenkirche ist nicht die geschrumpfte Größe der Organisation, sondern ob die Führung der Organisation genug Spielräume lässt, um die Suchbewegung zur Reorganisation der Organisationsstrukturen zu begünstigen und die entstehende Unsicherheit im vor dem Ende natürlich unvollendeten Gebilde nicht durch Zunahme von Ordnung zu unterbinden – also die Suche nach flacheren Organisationsformen als (von der Führung zu lösendes) Problem, nicht als (vor allem von der Führung gerne problematisierte) Lösung zu verstehen. Damit würde das Kleine im Großen zerstört und das Große im Kleinen übersehen. Eine hierarchische Entscheidung zu einer flachen Hierarchie gibt es nicht. Die Führungskunst lautet ‚Beidhändigkeit‘. 

B) Freude am Auftrag, den die Menschen der Kirche geben

Die Kirchen können einen Sinn für ein anderes In-der-Zeit-Sein eröffnen, 
einen Sinn für eine andere Weltbeziehung, die eben nicht auf Verfügbarkeit von Welt abzielt.

Hartmut Rosa

Die Corona-Pandemie zeigt sich als epochale Krise, die als in der Summe beherrschbare Krise ausgehen kann. Durch wissenschaftliche Exzellenz, durch demokratische Willensbildung, durch mediale Vermittlung. Das wird einen Niederschlag im Selbst(wirksamkeits)bild der Menschheit haben. Welchen Platz dabei das Spüren einer Transzendenz und die Antwort der Religionen darin einnehmen wird, wird zu sehen sein. Klar scheint schon heute: Es wird ein anderer sein. Die aufklärerische freie Vernunft in politischer Demokratie und wissenschaftlicher Evidenz zeigt sich als in der Lage, mit existentiellen Krisen umzugehen. Klar, es wird auch für die Überwindung der Pandemie gebetet. Aber die Aufforderung zum Gebet oder das Vertrauen auf Gottes Hilfe war kein Bestandteil einer Coronaschutzverordnung und die Leistung der Kirche zur Überwindung der Pandemie ist, naja, marginal. Es war stattdessen sehr viel Kirchenblase zu sehen. 

Die Wahrnehmung der Entwicklung einer anderen Funktionalisierung der Religion im Leben der Menschen ist nicht neu. Religion ist individualisiert, auch in seinen gemeinschaftlichen Vollzügen. Andererseits bleibt Religion eine soziale Kraft, weil ihre Sinnsprache einen Gesamtdeutungsanspruch enthält, der als für das soziale Leben funktional hilfreich und persönlich elementar erlebt wird.

Religiös aktive Menschen werden also auch weiter einen institutionellen Ausdruck ihres Glaubens herausbilden. Adaptiert wird jedoch nicht mehr der die Gesamtheit ordnende, lenkende Impetus einer solchen Institution – durch Moral und Rollenklassen, durch organisationale Macht. Die Sinnstiftung des Lebens, der Verweis auf Raum und Zeit als Raum und Zeit für Entwicklung bleibt auf ‚Kundenseite‘ nachgefragt. Das zeigt sich vor und in der Corona-Krise darin, dass lebensbegleitende Seelsorge, weisheitliche Sinnstiftung, die Reflexion des Lebens auch durch Verlangsamung desselben, beraterische Expertise und ästhetisch-sinnliche Raum- und Zeitangebote gefragt sind. Also die Verkündigung des Lebens in Differenz zur Erfahrung ihrer Krisenhaftigkeit als Funktion der Religion, die und der Gläubige als Bezeuger*in eines sich dafür einsetzenden Gottes.

Die Organisation der staatlich legitimierten institutionalisierten Kirche(n) und ihre Attributionsmuster ist noch nicht soweit, scheint mir. Das zeigen die erfolgreichen Versuche, sich in der Corona-Krise seinen bisherigen ordnungspolitischen Platz zu sichern. Es ist also nicht ausgemacht, dass diese Kirche die Organisationsform im o.g. Sinne sein wird. Für diese Kirche ein gutes Zeichen ist aber: auch unter diesen Kirchenleuten gibt es eine Sehnsucht danach, veränderte sinnstiftende Deutungen, Riten und Zeichenhandlungen als die neue Normalität, als Struktur der Keimzelle des Evangeliums und seiner Leben/Nicht-Leben-Differenz zu etablieren. Es ist für die Organisation von Kirche deshalb eine pragmatische Überlebensfrage, ob solche Menschen schnell genug in Verantwortungspositionen kommen, um die unentscheidbaren Fragen auf diese Weise zu entscheiden. (Wahrscheinlich werden sie dabei von ‚der Wahrheit‘ sprechen.)

C) Geistliches Leben jenseits der Kleriker-Laien-Differenz

Der Wechsel vom Priester als heroischen allpräsenten und machtvollen Guten Hirten oder jovialen ewig-jungen pädagogischen kumpelhaften Überzeugungstäter zu einem Servant Leader mit formalen Segensauftrag gehört fortgesetzt. Die Orden bieten hierzu innerhalb christlicher Kultur herausgeprägte Rollenbilder des Priester auch in seiner geistlichen Leitungsvollmacht an (… nicht ohne Grund besetzt Papst Franziskus Bischofssitze gerne mit Ordensleuten). 

Eine weitere Erfordernis ist, dass sich das Rollenbild der Gemeindemenschen ändert. Karl Rahners Verweis auf die zukünftig notwendige mystische Qualität geistlichen Lebens ist dabei genauso mitzusehen wie die Selbstleitungskompetenz auf liturgischer, martyriologischer und organisationaler Ebene. Hier zeigen die Verbände und ihre Programme, wie das theologisch plausibilisiert und organisatorisch funktionalisiert werden kann. 

Diese Lern-, Ver- und Entlernprozesse jenseits der Kleriker-Laien-Differenz fallen (vermutlich) nicht vom Himmel. Es braucht Anreize, Bildung, Beispiele, Führung.

Hinzukommt, oft unterschätzt, eine nötige Veränderung auf gesellschaftlicher Ebene: Die Veränderungen in der Binnensprache der Kirche muss in die Sprachspiele integriert werden, die alle Menschen sprechen, wenn sie über Kirche sprechen. Solange die Öffentlichkeit davon spricht und die persönliche Erwartung ist, dass alles, was in (katholischer) Kirche Bedeutung hat, doch ein Priester und die Messe ist und ohne eigene persönliche Beteiligung herangereicht wird, können wir uns intern noch so sehr auf ein anderes Verständnis verständigen, wir werden aus unserer Sicht dann falschen Erwartungen begegnen. „Wie, Frau X aus dem Nachbarhaus beerdigt unsere Oma? Wofür zahle ich denn Kirchensteuer! Und an Weihnachten kann ich mir ein Hausgebet aus dem Internet runterladen, weil ich aus Taufe und Firmung selber …? Wir sind doch hier nicht bei IKEA!“ Die selbstverschuldete Unmündigkeit der Menschen, die die Kirche in einem (perfiden) System der Einheit der Differenz von Macht/Ohnmacht über Jahrzehnte verkündet hat, aus der mentalen Logik einer Kultur herauszunehmen braucht Auskunft, Konsistenz, Geduld und viele – sehr viele – pertubierende Erfahrungen im Sinnsystem der Öffentlichkeit.

13.

Die Kirche ist Raum des weihnachtlichen „Ja“. Dieses hat drei Charakteristika: 1. Der Weg der Kirche ist kein einfacher Weg. 2. Der Weg steht allen Menschen offen. 3. Es ist ein Weg des Lebens.

Carlo M. Martini

Der Januar, dieses schon-und-noch-nicht des Jahres mit seiner Verheißung der Wiederkehr des Lebens – für mich ein Moment einer Kirche auf dem Weg.

Der Januar-Moment erfordert, die Einheit der Differenz nicht aufzulösen, sondern zu reproduzieren, zu gestalten. Im Moment arbeiten wir eher an der Auflösung des Systems, weil uns die systemkritischen Fragen sowohl von ‚links/progressiv‘ als auch von ‚rechts/traditionell‘ wichtiger zu sein scheinen als die systemischen. Mein Appell ist: Liebe dieses System und verändere es als System. Die Therapie heißt nicht: Töte die Kirche, egal ob so oder so, sondern führe sie zur Akkommodation ihrer produzierten Umwelten. 

Wichtig dafür wäre, die unentscheidbaren Fragen zu bearbeiten, ohne den Anspruch, sie lösen zu müssen. Es gilt, sie bearbeitbar zu halten und funktional die Differenz zwischen Leben/Nicht-Leben zu reproduzieren, immer wieder, und zu beobachten, was mit dem Unterschied zwischen Leben/Nicht-Leben passiert, den die Kirche anbietet. Mehr Leben? Mehr Tod?   

Unser Gehirn möchte Lösungen produzieren, dafür ist es da. Wie schwer also ist es, die Spannung aufrechtzuerhalten. Aber wenn alles gelöst wäre, bräuchte es das Gehirn nicht mehr. Und da es das weiß, produziert das Gehirn nie perfekte Lösungen. Schlau, das Gehirn. Wenn also schon manchmal die Entscheidung zwischen Pizza oder Pommes schwer fällt, ist doch klar, dass die Frage z.B. der Frauenordination auch schwer fällt, nicht zu entscheiden und mit der Ununterscheidbarkeit funktional in der Organisation von Kirche umzugehen: Wenn die Frauenordination dem Leben dient, tue man sie. Wenn nicht, lasse man es. Aber was ist Leben? Darüber lasst uns also diskutieren und nachschauen, was passiert.  

Die Kirche nennt den Umgang mit einer unentscheidbare Frage Glaube, ihr Angebot dazu lautet Vertrauen. Die Frage der Frauenordination ist nicht eine Frage des Glaubens, sondern des Vertrauens. 

Die Form der Kirche ist die Evangelisation durch die Verkündigung der Unterscheidung von Leben/Nicht-Leben und Inszenierung des Vertrauens aufgrund der Ununterscheidbarkeit dieser Differenz, ihrer Einheit. Die Reproduktion dieser Unterscheidung ist, weil Form, auch immer Selbstevangelisation der Kirche in Beobachtung ihrer Umwelten. Die Anwendung der Unterscheidung wird durch Akkommodation die Kommunikation über Relationen und Muster im System verändern, aber – als Trost für alle Traditionalisten, der ich in diesem Sinne auch bin – nicht seine Funktion.

Auf den Januar folgt der Februar. Dieser beginnt fast unmittelbar mit Lichtmess, einem Reinigungs- und Weihefest. Das Leben kommt zu Kräften. Der Februar steuert dann auf Aschermittwoch zu, der Tag an dem nichts vorbei ist, sondern die Bekehrung zum Leben zugerufen wird, getragen bereits von der österlichen Verheißung.

Ich bleibe zuversichtlich.

Beitragsfoto privat


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