Ein Papst. Ein Brief.

Der Brief von Papst Franziskus „An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ kirchenentwicklerisch gelesen.

Papst Franziskus überrascht. Auch sein Brief „An das pilgernde Volk Gottes“ vom 29. Juni 2019 kam unangekündigt und wenig erwartbar. Oder doch nicht? Papst Franziskus ist ein Papst der Beziehung, der Inkulturation kirchlicher Lehre und direkter Kommunikation – und er ist nicht der erste Kirchenleiter, der seinen Gemeinden einen Brief schreibt.

Seit Veröffentlichung wird der Brief so-und-so ausgelegt (und auch die Weise der Vorabveröffentlichung wird gedeutet). Treibt der Papst voran? Ruft er zurück? Man ist irritiert.1

Man kann Papst Franziskus im Allgemeinen nicht vorwerfen, nicht eindeutig in seinen Aussagen zu sein. Er ist ein Mensch klarer, oft kantiger Worte. In seiner Spontanität (Beispiele: Pressekonferenzen), genauso wie durch Kalkül (Beispiel: Ansprachen an die Kurie).

Wenn er nun einen „uneindeutigen“ Brief an uns römisch-katholische Christinnen und Christen in Deutschland schreibt, dann möchte er das tun. Denn „uneindeutig“ ist er nur aus unserer Betrachtung, weil wir gerne Eindeutiges lesen wollen würden – je nach Lager unterschiedliches.

Aber der Papst steht weder hier noch da im Konzert der Meinungen und somit ist es müßig zu fragen, ob er jetzt für oder gegen Veränderung ist. Auf diese Kategorie lässt er sich nicht reduzieren. Er steht woanders, auf „Position drei“. Zumindest erschließt es den Brief auf überraschend eindeutige Weise, wenn man einmal diesem Gedanken folgt – und das wird der folgende Durchgang durch den Brief tun.

Papst Franziskus führt die Kirche durch Kommunikation von Beobachtungen. Er bietet Unterscheidungen an, die Selbstreferentialität erzeugen wollen und die Selbstwirksamkeit erhöhen sollen. Er ist sehr entschieden, nichts zu entscheiden, was ihn nicht selber unbedingt angeht. So nach dem Motto: Ich sage euch nicht, was wichtig zu sehen ist. Sondern ich sage euch, was ich sehe, wenn ich auf euch schaue. Es lohnt das Experiment, Papst Franziskus in diesem Sinne als „Systemiker“ zu verstehen.

Sind wir bereit und in der Lage dazu, diese „Position drei“ zuzulassen, auszuhalten – ja, sogar zu nutzen? Es wäre jedenfalls schade, den Brief enttäuscht zur Seite zu legen, weil er für die Kirchenentwicklung nach eigener Betrachtungsweise nichts bereit hält. Schauen wir einmal aus der Position des Papstes auf die Kirche in Deutschland und hören zu, was er über, nicht zu unserem Diskurs zu sagen hat.

Alle folgenden Zitate sind dem Brief entnommen, die Nummern geben den Briefabschnitt an. Der inhaltliche Duktus folgt dem Brief des Papstes, die Überschriften bieten Leitbegriffe an.

Offenheit beim Lernen

Der Anfang des Briefes hebt die Situation der Jüngerinnen und Jünger Jesu nach der Auferstehung hervor. Es ist eine Situation verwirrender Erlebnisse („… hörten sie aus dem Munde einer Frau“, Einleitung) des Begreifens, der Metanoia, der „Neuheit“ (Einleitung) – des Lernens. Angesichts der Vielzahl von eskalierenden Demaskierungen kirchlicher Souveränität, erschütternder Prognosen der Zukunftsfähigkeit kirchlichen Handelns und teilweise skurrilen Lösungsversuchen kann man sagen: wie bei uns.

Franziskus ruft dazu auf, in den Entwicklungsmodus zu gehen, in dem es nicht auf bisherige Meinungen ankommt, sondern auf die überraschenden Wendungen und Wandlungen – systemisch: die Pertubationen – des Bestehenden. „Wir sind uns alle bewusst, dass wir nicht nur in einer Zeit der Veränderungen leben, sondern vielmehr in einer Zeitenwende, die neue und alte Fragen aufwirft, angesichts derer eine Auseinandersetzung berechtigt und notwendig ist.“ (Einleitung)

Der Papst lädt ein, nicht nur die neuen Dinge zuzusortieren, sondern die Dinge Neuartig zu verstehen. Siehe Ostern.

Partizipation & Kollegialität

Dieses Lernen soll nach dem Willen der deutschen Bischöfe ein gemeinsamer Weg der Kirche in Deutschland werden. Franziskus hebt hervor, dass dies bedeutet, „sich gemeinsam auf den Weg zu begeben mit der ganzen Kirche unter dem Licht des Heiligen Geistes.“ (3) – Lernen ist ein Kommunikationsprozess.

Franziskus wird konkreter: „Es (ist) nicht möglich, eine große Synode zu halten, ohne die Basis in Betracht zu ziehen. Dann erst kommt die Synodalität von oben nach unten.“ (3) Eine Synode ist eine Kommunikationsvereinbarung, die sich vom regulativen Alltag unterscheidet. Keiner wie Papst Franziskus hat in der jüngeren Kirchengeschichte neu gehoben, dass nicht die Beschlüsse, sondern die Erfahrung, nicht die faktischen Ergebnisse, sondern der Haltungswandel die Qualität von Synoden ausmachen. Redet miteinander. Lasst euch aufeinander ein. Der Rest folgt dann.

Indem der Papst voraussetzt, dass die „Sachlagen und Fragestellungen, die ich mit euren Hirten anlässlich des letzten Ad-Limina-Besuches besprechen konnte, sicherlich weiterhin Resonanz in euren Gemeinden (finden)“ (Einleitung) – was aber ja mitnichten der Fall ist – zeigt sich, dass wir diese Kommunikationsvereinbarung noch nicht genug eingeübt, geschweige denn die Organisation dessen verstanden haben. Die deutsche Kirche kann Katholikentag und Pontifikalamt – aber können wir auch professionelle Settings, die es erlauben „die kollegiale Dimension des bischöflichen Dienstes und des Kirche-Seins zu leben“? (3) Bitte um ehrliche Antwort.2

Tempo, Zeit und Musterveränderung

Keine Ahnung, ob der Papst „VUCA“ kennt – also die Verschlagwortung der zeitgenössischen Herausforderung von Lebens- und Organisationsführung: Volatility (Unbeständigkeit), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit). Aber er teilt die Wahrnehmung, dass es Bedingung für den Weg ist, „gerüstet mit Geduld und der demütigen und gesunden Überzeugung (zu sein), dass es uns niemals gelingen wird, alle Fragen und Probleme gleichzeitig lösen zu können.“ (3)

Indem er von einem „langen Reifungsprozess … über Jahre hinweg“ (3) und von Prozessen schreibt, „die uns als Volk Gottes aufbauen, statt nach unmittelbaren Ergebnissen mit voreiligen und medialen Folgen zu suchen“ (3) erinnert Franziskus an die Kraft von Veränderung, die nicht in einem hauruckartigen Anders, sondern in einem tiefatmenden Wandel liegt und die Ahnungslosigkeit über die Zukunft nicht als Problem der Gegenwart sondern als Impuls für ein „Mutig voran“ (kein Zitat aus dem Papstbrief, aber ein häufiger Appell von ihm) zu sehen ist. Wir wissen nicht, wie es wird. „Man arbeitet im Kleinen, mit dem, was in der Nähe ist, jedoch mit einer weiteren Perspektive.“ (11)

Ja, die Krisenphänomene bleiben dadurch mitunter kaum auszuhaltend erhalten (Vertrauensverlust, Mitgliederschwund, innere Spaltungen), aber falsches Tempo in der Veränderung ist eine „subtile Versuchung“ (4), bei der man letztlich an „vorgefassten Schemata und Mechanismen“ (4) festhält, „die in einer Entfremdung oder einer Beschränkung unserer Mission enden.“ (4) Papst Franziskus weist auf den möglichen Konstruktionsfehler von Erneuerung hin, nämlich „dass die Lösungen der derzeitigen und zukünftigen Probleme ausschließlich auf dem Weg der Reform von Strukturen, Organisationen und Verwaltung zu erreichen sei“ (5) und in einem „Reorganisieren der Dinge, in Veränderungen und in einem Zurechtflicken“ (5) liegt. Seine Empfehlung: „Die Art und Weise der Annahme der derzeitigen Situation wird bestimmend sein für die Früchte, die sich daraus entwickeln werden.“ (6)

Das ist keine römische Führungsverweigerung, sondern geradezu das Gegenteil: Es ist ja eben Kennzeichen der VUCA-Welt, dass die Komplexität etc. nicht zu beseitigen ist – erst recht nicht durch etwas Kompliziertes. Der organisationsentwicklerische Hinweis, dass sich Führungsarbeit unter komplexen Bedingungen im wesentlichen in der Moderation von Kommunikation und geteilter Visionsarbeit zeigt, deutet den Stil des Papstbriefes aus. Damit ist Wichtiges für den synodalen Weg in Deutschland gesagt.

Affekte

Franziskus ist auch in deutscher Übersetzung eine Sprache zu eigen, die Emotionales hebt. Er schreibt vom „Mut“ (5), dessen wir bedürfen, von der „Angst“ (5), die wir womöglich haben und von „Ungleichgewichte(n) und Missverhältnisse(n)“ (5), die es zu bewältigen gilt, die uns also Fesseln und Gewalt ausüben. Für ihn sind diese Selbstzustände Teil der Kommunikation.

Es gibt eindrucksvolle Fotos und Videos, in denen man im Gesicht des Papstes direkt ablesen kann, was er fühlt und empfindet. Mehr davon auch bei uns selber. Über Schmerz reden ist das eine, ihn zeigen etwas anderes. Von Mut zu sprechen ist etwas anderes als mutig zu sein.

Vision & Programm

Worum geht es dem Papst? Darüber führt er keine Traktate aus, sondern erzählt Geschichten. Im Brief wählt er Formulierungen wie „Frische des Evangeliums“ (5), „Biss des Evangeliums“ (5) und „pastorale Bekehrung“ (6). Das sind keine deklaratorischen Programmwörter, sondern leidenschaftliche Deklarationen. Nicht klar definiert, aber anschlussfähig durch eigene Vertiefung.

Damit ist von Seiten des Bischofs der Weltkirche im Unterschied zu manchen visionsverliebten Worthülsen für die Vision als einer Kraft im Herzen der Menschen absolut Genüge getan. Menschen brennen nämlich nicht für Leitbilder, die sie nicht selber entflammen. Und eine Vision ist nicht das fertige Programm, sondern das Streichholz.

Geistliche Führung

Erwartbar weist der Papst darauf hin, dass sich der Weg der Erneuerung im „vom Evangelium inspirierten Geist“ (6) zeigt. Ignatianisch geprägt deutet er diesen Geist nicht als zusätzliche Kategorie, sondern als zusammenwebende Instanz: Es ist von Bedeutung, alle Prognosen, Berechnungen, Umfragen und Pastoralplanungen „zu werten, hinzuhören, auszuwerten und zu beachten. In sich jedoch erschöpft sich darin nicht unser Gläubig-Sein.“ (6)

Dies auf den synodalen Weg zu übertragen heißt, nicht zu fragen, wie der Weg Geistlich wird, was schlimmstenfalls eine rein methodische Frage bleibt, sondern, wie wir dem Weg des Geistes folgen. Auch dazu braucht es Methoden, Prozessmethoden genauer gesagt, aber womöglich ganz andere als die, die wir klassisch kennen – sonst reproduzieren wir nur das Klassische. Es gibt Lehrmeister*innen dafür.

Codierung

Und überhaupt: das Evangelium. Damit sind wir beim Kern des Briefes angekommen. Das Evangelium ist der Franziskus-Code, die zentrale Codierung des Systems.

Was als Begriff – Codierung – erstmal seltsam anmutet, ist Systemtheoretisch alles andere als trivial. Mit der Codierung wird bezeichnet, wie ein beobachtetes System – nennen wir es „Kirche“ (mit aller in Kauf genommenen Unschärfe, was die Beobachtenden dabei je für sich als Beobachtungsgegenstand bezeichnen) – Unterschiede zur Umwelt macht, also überhaupt erst für diese sichtbar wird.

Das ist kein abstraktes Gedankenspiel, sondern konstruiert die Wirklichkeit von Kirche.

Beispiel: Das Wetter findet immer statt. Aber erst die Wetterbeobachtung und vom Beobachter (nicht vom Wetter) konstruierte Gesetzmäßigkeiten, machen daraus ein bestimmbares System (an die das Wetter sich nicht immer gebunden fühlt). Wenn ich mit dem „Code Klimawandel“ auf das Wetter schaue, werde ich überall Klimawandel entdecken oder aus meiner Sicht stichfeste Gründe dagegen haben. Das Wetter selber kennt keinen Klimawandel (was die Einflussnahme des Menschen auf die Prozesse der Wetterentstehung nicht leugnen möchte). Die Beobachtung und Bezeichnung macht den Unterschied und führt dazu, je nach Beobachtung/Bezeichnung diese oder jene Ansicht zu haben, diese oder jene Maßnahme zu ergreifen. Sprich: Ein System entsteht im Auge des Beobachters und was er zu sehen bekommt, hängt davon ab, was er dabei auf welche Weise in den Blick nimmt.

Papst Franziskus appelliert im Brief eindringlich dafür, dass man für das „System Kirche“ den „Code Evangelisierung“ wählt. Kirche findet immer statt, aber durch Evangelisierung soll sie unterscheidbar bezeichnet sein. „Die Evangelisierung ist keine Taktik kirchlicher Neupositionierung in der Welt von heute, oder kein Akt der Eroberung, der Dominanz oder territorialen Erweiterung, sie ist keine Retusche, die die Kirche an den Zeitgeist anpasst, sie aber ihre Originalität und ihre prophetische Sendung verlieren lässt. Auch bedeutet Evangelisierung nicht den Versuch, Gewohnheiten und Praktiken zurückzugewinnen, die in anderen kulturellen Zusammenhängen einen Sinn ergeben. Nein, die Evangelisierung ist ein Weg der Jüngerschaft in Antwort auf die Liebe zu Dem, der uns zuerst geliebt hat.“ (7) Der Evangelisierung gilt das „Hauptaugenmerk“ (8). „Das bedeutet hinauszugehen, um mit dem Geist Christi alle Wirklichkeiten dieser Erde zu salben, an ihren vielfältigen Scheidewegen, ganz besonders dort, wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen.“ (8) Papst Franziskus versteht die Kirche als Referenzsystem für die Welt, nicht als Machtsystem in der Welt. Wenn das mal keine Position ist.

Die Betonung auf die evangelisierende Kirche als Systembezeichnend wird relevant, wenn man sich einmal den Umkehrschluss anschaut – nämlich was die Kirche für den Papst dann alles nicht mehr ist. Das revolutioniert das Kirchenbild – oder irritiert es zumindest. Ein Selbstversuch macht das schnell klar: Schreiben Sie drei Dinge auf einen Zettel, was für Sie die Kirche ausmacht, ganz persönlich. Streichen Sie dann diese Worte durch und schreiben „Evangelisierung“ daneben, dreimal.

Wer das Wetter auf Phänomene des Klimawandels hin beobachtet, sieht überall Klimawandel. Wer die Kirche im Dienst der Evangelisierung versteht, sieht in allem Evangelisierung. Es stellt sich die Frage, ob wir dafür – liberal wie konservativ – passend aufgestellt sind. Oder ob wir – Paul Watzlawick zitierend – überall Nägel sehen, weil wir nur einen Hammer im Werkzeugkoffer haben.

Was ist Kirche? Die Art und Weise, wie man sie beobachtet und Unterschiede macht. Wir glauben, dass die Kirche ihre Kraft aus der Eucharistie zieht, aus Ämtern, aus Ordnung. Wer Kirche als Evangelisierung bezeichnet sucht – mit den Worten des Papstes – nach Begegnungen, Solidarität und Aufschrei gegen Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit (siehe 8). Auch hier ein Praxischeck: Streichen Sie in einer beliebigen Woche alles aus dem Kalender, was mit Eucharistie zu tun hat und ersetzen Sie es durch „Begegnungen“, alles, was mit amtlichen Diensten zu tun hat und ersetzen Sie es durch „Solidarität einüben“, alles, was mit Ordnung und Organisieren zu tun hat und ersetzen Sie es durch „Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zeigen“.

Wohlgemerkt, das ist keine Rede gegen Eucharistie, Amt und Ordnung, sondern nur der Hinweis, die eigene Beobachtung daraufhin zu überprüfen, was man sieht, wenn man Kirche sieht. Wenn Eucharistie in Begegnung führt, sich amtliche Dienste solidarisch, heilend zeigen und die Organisation der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit dient, brauchen Sie ja nichts ändern.

Kommunikationen

Papst Franziskus ist wie schon gesagt ein Kommunikator. Systemisch ist Kommunikation dabei nicht der Austausch von Informationen (Sender-Empfänger), sondern die Konstruktion von Wirklichkeit. Nicht ein Objekt, zum Beispiel eine Person, legt fest, was „wirklich“ ist, sondern es ist die Kommunikation zwischen Kommunikationsinstanzen (… seien es gesellschaftliche Diskurse zwischen Interessensgruppen, eine Unterhaltung zwischen zwei Personen oder Selbstgespräche), die Realitäten erschafft. Das macht menschliche Interaktionen offen und mehrdeutig – aber auch lebendig und entwicklungsfähig.

Bei Papst Franziskus treffen wir auf die Rede vom „Sensus Ecclesiae“, was ungefähr das gleiche ist. Man setze nur über all, wo diese beiden Worte im Brief stehen das Wort „Kommunikation“ ein. Spannend!

Der Sensus Exclesiae – Kommunikationen – „schenkt diesen weiten Horizont der Möglichkeit, aus dem heraus versucht werden kann, auf die dringenden Fragen zu antworten.“ (9) Die vielen Stimmen an den vielen Orten und Positionen und zu allen Zeiten der Kirche gehören wahrgenommen um die Tür offen zu halten. „Das bedeutet nicht, nicht zugehen, nicht voranzuschreiten, nichts zu ändern und vielleicht nicht einmal zu debattieren und zu widersprechen, sondern es ist einfach ein Teil des Wissens, dass wir wesenlich Teil eines größeren Leibes sind.“ (9) „Der Sensus Ecclesiae befreit uns von Eigenbrötelei und ideologischen Tendenzen.“ (9)

Wenn Evangelisierung für Papst Franziskus der „Code“ des Systems Kirche ist, dann ist Kommunikation der Stil dazu – und beides die „kirchliche DNA“ (11). Nicht von ungefähr legt der Papst gerne die vorbereiteten Redemanuskripte zur Seite und spricht frei zu und mit den Menschen. Entsprechend gilt das bekannte Beraterbonmot auch für den synodalen Weg in Deutschland: „Was sind die drei wichtigsten Dinge in einem Veränderungsprozess? 1. Kommunikation. 2. Kommunikation. 3. Kommunikation.“ Eine Synode, die nur der Artikulation von Wahrheiten dient und dem Streit darüber, was wahr ist, brauchen wir nicht. Es braucht die Neugier, sich von eigenen Positionen aus aufzumachen und anderen/anderem zu begegnen sowie die Lust zu schauen, was dabei herauskommt.

Inklusion & Exklusion

Der Papst mahnt davor, „das Volk Gottes auf eine erleuchtete Gruppe reduzieren zu wollen“ (10). Er spricht von der „zerstreuten Heiligkeit“, von der „Heiligkeit von nebenan“ (beides 10) und damit von einer Weite kirchlicher Identität.

Was ist innen, was ist außen? Systemisch konstruiert sich ein System durch Ausschluss. Es wird festgelegt, worauf angesprungen wird. Ein Thermostat misst nicht jeden Wert, um das Ventil zu regulieren. Der Papst plädiert für viele Messpunkte, viel Einschluss in die Kirche. „Achten wir auf die Versuchung durch den Vater der Lüge und der Trennung, den Meister der Spaltung, der beim Antreiben der Suche nach einem scheinbaren Gut oder einer Antwort auf eine bestimmte Situation letztendlich den Leib des heiligen und treuen Volkes Gottes zerstückelt!“ (10) Die Lösung, man ahnt es: Kommunikation. „Begeben wir uns als apostolischer Körper gemeinsam auf den Weg und hören wir einander unter der Führung des Heiligen Geistes.“ (10)

Position Drei – die Triade

Die Triade sorgt in der systemischen Arbeit für Dynamik. Der dritte Punkt sorgt dafür, dass es nicht beim polaren Gegenüber bleibt, kein dialektisches Hochschaukeln wird, kein kausales Ausschließen ist. Es ist nicht entweder-oder oder sowohl-als-auch, es könnte auch alles ganz anders sein. Mit dem dritten Punkt wird aus jeder Linie eine Fläche.

Der Papst geht davon aus: Es geht nicht darum, wer Recht hat. Es ändert sich eh alles, weil der HERR die Geschichte schreibt. Wir sollten das mitbekommen. Franziskus ruft zur „Wachsamkeit“ und „Bekehrung“ (beide 12). Kirche ist stetige „Entäußerung“ (12), nie ein Verkapseln. Wahrheit ist ein Prozeß, kein Punkt, das Lehramt ein Weg, kein Standpunkt. Wer den Papst fragt, ob es so oder anders sein sollte, hört von ihm: Lasst uns gehen und nachschauen. Die Kirche ist Abbild göttlicher Kreation, sie zu führen bedeutet co-kreativ zu sein. Was nach Beliebigkeit aussieht ist unter systemischer Perspektive nur ein anderes Verständnis von Wirklichkeit – theologisch durchaus anschlussfähig. Leben nicht als gesetzter Punkt, von dem aus etwas passiert (oder misslingen kann), sondern als Geschenk, auf das hin etwas passiert (und gestaltet werden kann). „Nichts soll stärker sein als Leben, das uns vorantreibt.“ (13)

Für das pilgernde Volk Gottes in Deutschland ist Papst Franziskus – das war die Ausgangslage – ein Impulsgeber auf „Position drei“. Er steht an einer anderen Stelle, womöglich schon einen Schritt weiter, und bringt sich ein (vgl. Lk 9,55). Papst Franziskus ist mehr Trainer als Mitspieler, mehr Supervisor als Heilsbringer. Er schreibt keinen Katalog oder Handbuch und hält keinen Lehrervortrag – Hefte raus, brav mitschreiben. Er schreibt einen Brief. Wenn er dies von seiner Position aus tut, dann wirft das die Frage auf uns zurück, welche Position wir im synodalen Weg einnehmen. Als Zuhörende und Lernende vielleicht? Als auf-dem-Weg-Seiende, die bereit sind, am Abend woanders anzukommen als man am Morgen losgegangen ist? „So erreichten sie das Dorf“ (Lk 24,28) … und alles war ganz anders.

Papst Franziskus überlässt es uns, seine Hinweise vom Spielfeldrand in die Spieltaktik aufzunehmen. Sein Brief ist aber eine Einladung dazu.

Foto: unsplash


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: