Gründen ist das neue Wachstum. Eine Rezension des „Gründerhandbuchs“

Google, Tesla, St. Liudger

Silicon Valley, Berlin, Tel Aviv – das sind oft genannte „Hot Spots“ der Gründerszene. Also Orte, an denen etwas probiert, gewagt, reflektiert, wieder verändert, verworfen und vielleicht mit der Zeit standardisiert und installiert wird. In unseren Zeiten schaut man gespannt und gebannt auf solche Orte. Denn weil Ressourcen knapp oder zumindest ungünstig verteilt sind, sowie wirtschaftliches und kulturelles Wachstum nicht mehr einfach produzierbar ist, braucht es Orte, an denen etwas gegründet und dadurch manchmal neu grundgelegt wird.

Vieles von dem, was uns heute alltäglich ist, basiert auf einer Gründung. Eigentlich alles sogar. Auch die Kirche.

Können aber unsere kirchlichen Träger und pastoralen Handlungsorte Gründerzentren werden? Können von Oer-Erkenschwick, Kerpen, Warendorf, Jever oder (… bitte eigenen Wirkungsort einsetzen …) kirchenentwicklerische Impulse ganz neuartiger Weise ausgehen?

Von einem der Auszog

Florian Sobetzko meint: Ja. Weil er es selber probiert hat, als Pastoralreferent in Aachen mit der Jugendkirche kafarna:um und als Mitglied im Team der Zeitfenster-Gottesdienste. Weil er seit mehreren Jahren „Handlungsreisender“ in Sachen pastoraler Start-Ups ist und mit vielen Menschen, die hauptberuflich wie freiwillig Engagiert pastorale Verantwortungsträger sind, dazu gearbeitet hat.

Sein Wissen, seine Ideen und Erfahrungen sowie seine pastoraltheologischen Reflektionen am Zentrum für angewandte Pastoralforschung (ZAP) der Ruhr-Universität-Bochum hat er nun niedergelegt im „Gründerhandbuch“, das 2017 gemeinsam mit dem Pastoraltheologen Matthias Sellmann unter Mitbeteiligung weiterer Akteure aus der kirchlichen Kirchenentwickler- und Gründerszene im Echter-Verlag erschienen ist.

Pastoralentwicklung, praktisch

Das Buch möchte einen Unterschied machen. Und das fängt bereits beim Format und der Ausstattung an. Das mit über 450 Seiten voluminöse Buch hat Gewicht, im doppelten Sinne. Es kommt mit einer ansprechenden Bildsprache daher und von Anfang an mit einer Sprachgestalt, welche Unternehmertum, Theologie und Spiritualität dergestalt miteinander verbindet, das man sich schwer tut, die drei Schlagworte in eine Reihenfolge und damit in eine Gewichtung zu bringen.

Das klassische Inhaltsverzeichnis mit Kapitelnummern und Seitenzahlen findet sich hinten im Buch, ebenso wie das Literaturverzeichnis. Soll wohl keiner sagen, das Buch genüge nicht den üblichen Ansprüchen eines Fachbuchs. Aber eigentlich ist ein anderer Zugang gewollt: Entdeckend, explorativ, selbstleitend. Das Buch in die Hand zu nehmen, zu stöbern, hängenzubleiben, weiterzublättern, die Themen zu entdecken, macht Spaß.

Aber es fordert auch heraus. Denn inhaltlich fehlt nichts – das bedeutet gleichwohl: Es steht ganz schön viel drin. Wer über den ersten Eindruck hinausgeht und in die Themen einsteigt, kommt ins Studieren. Dabei ist der Einsatz von Begrifflichkeiten, Denkmustern und Methoden aus der Unternehmens- und Markenentwicklung erfrischend neu, reizvoll und hilfreich, aber auch ungewohnt. Eben ein Unterschied.

Die Stärke des Buches ist, dass es kein Buch eines Theoretikers für Praktiker ist. Florian Sobetzko ist Praktiker, der den Dingen auf den Grund gegangen ist und Anteil daran gibt.

Gut ist auch, dass er andere Menschen einbindet. So berichtet der Gemeindereferent Jürgen Maubach von seinen Erfahrungen als Gemeindegründer. Bedeutsam ist, dass Maubach drei Kontexte des „Gründens“ hebt: die Bedeutung für die persönliche Selbstwirksamkeit, die Erfordernis günstiger Bedingungen in der kirchlichen Organisation und die Konsequenzen für die berufliche Rolle als Hauptberuflicher im pastoralen Dienst.

Genauso holt Sobetzko in eine theologische Denkschule hinein, weil das Buch auch theologische Beiträge vom Kirchengeschichtler Christian Schröder, dem Exegeten Thomas Söding, dem Fundamentaltheologen Matthias Remenyi, dem Pastoraltheologen Christian Henneke und der Pastoralpraktikerin Maria Herrmann enthält. Schön wäre hier ein Review gewesen: Was fließt zurück aus der theologischen Reflektion in die pastorale Innovation?

Der umfassende Praxisteil des Buches folgt der Schrittfolge

  • Ausdenken/Ideation,
  • Ausprobieren/Applikation (mit den Unterschritten Konzeptentwicklung & Konzeptüberprüfung),
  • Ausbreiten/Diffusion und
  • Ausführen.

Das ist eine wunderbare Unterbrechung des in Kirche tief verinnerlichten Erkenntniskreislaufs Sehen – Urteilen – Handeln. Es ist gut, ein Alternativkonzept zu kennen. Kaum vorzustellen, was passieren würde, wenn sich z.B. katechetische Konzepte oder gemeinschaftsbildende Angebote stärker von der Identität der Gestalter ausgehend aus den faktischen Ressourcen konstruieren, von der Agilität der Entwicklung geleitet und offen gegenüber dem Feedback durch die Nutzer zeigen würden. Allein das im Kopf durchzuspielen …

Pastoralentwicklung, selbstgemacht

Die Leserin und der Leser kann entscheiden, wie intensiv sie respektive er in die einzelnen Abschnitte eintaucht: Ob sie/er die Grundlinie an der Oberfläche nachvollzieht oder gezielt Interessen vertieft. Das Gründerhandbuch ist kein Buch zum „von-vorne-nach-hinten-durchlesen“, sondern eher zum „immer-wieder-nachschlagen“. Das Buch ist keine Bauanleitung und kein Wunschzettel. Es ist ein Handlungskatalog. Es ist auch kein Beruhigungsmedikament oder ein Placebo. Es ist eine Energiepille.

Im Praxisteil werden verschiedene Ansätze und ihre Methoden detailliert vorgestellt und konkret gemacht, z.B. Effectuation, Business-Model-Canvas und Methoden aus der Organisationsentwicklung wie die SWOT-Analyse. Dies geschieht in sehr lebendiger und aktivierender Weise, so dass man eingeladen ist, direkt „mitzumachen“. Durch die hohe Detailtiefe braucht der „Handwerker“ aber ein gutes Selbstkonzept, um durch die Vielzahl von Anregungen nicht ganz benebelt zu werden. Auch ist das fachliche Niveau recht hoch, so dass jemand, der nicht sowieso schon eine Affinität für OE- und Prozesssprache hat, vielleicht irgendwann aufgibt, das Buch zu nutzen. Das Buch ist aus meiner Sicht kein Buch für Einsteiger. Aber das soll keine Kritik sein.

Äußerst Nutzerfreundlich ist, dass einige Materialien online frei zugänglich sind und unkompliziert direkt eingesetzt werden können.

Ein, zwei, drei, Gründen – Nein, so geht das nicht

Der Praxisbezug des Buches ist anregend. Doch auf einen Zirkelschluss sei hingewiesen: Die dargestellten Gründungen von Sobetzko, Maubach & Co. sind induktiv, aus einem Impuls, aus einem Genius, aus einem Kairos entstanden. Die im Buch dargestellten Methoden und Instrumente des Gründens waren dabei sicherlich sehr hilfreich – deswegen werden sie ja vorgestellt. Entscheidend waren sie nicht.

Kein Mensch wird zur Gründerpersönlichkeit, wenn er dieses Buch liest. Und eine Gründerpersönlichkeit braucht dieses Buch eigentlich nicht. Gleichwohl können wir „Normalos“ uns von einer Persönlichkeit wie Florian Sobetzko immer wieder anstupsen lassen und Methoden aus dem Gründerhandbuch in unser Repertoire aufnehmen – zum Wohl.

Der für mich elementarste Teil des Buches ist für mich deswegen der Teil, in dem es um die Identität als Ecclesiopreneur und die Kompetenz zur Innovationsfähigkeit geht. Beides kann man nicht einfach machen. Aber man kann Menschen entdecken wollen, die das mitbringen und man kann in Aus- und Fortbildung Signale setzen, welche die bei jedem vorhandenen Anteile daran bestärken. Ich würde das Buch deswegen gerne jedem Verantwortlichen in Personalauswahl und -entwicklung in die Hand drücken.

„Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus“

Florian Sobetzko und seine Mitautorinnen und Mitautoren halten (im wahrsten Sinne) den Glauben daran hoch, dass die Kirche Gottes nicht am Ende, sondern immer wieder neu am Anfang ist. Dass die Botschaft Jesu durch alle Milieus hindurch eine Relevanz entwickeln wird, wenn wir uns auf den jesuanischen Weg der Inkarnation und Zeitgenossenschaft begeben. Sie sagen: Dabei können Konzepte der Unternehmensgründung helfen. Ich sage: Danke für euren Beitrag dazu.

Kirchenentwicklung ist dann kein Vorgang ausgeklügelter Ressourcenverwaltungskonzepte oder nur eine Frage lebendigen Glaubens. Kirchenentwicklung ist ein schöpferischer, kreativer, lustvoller Prozess im Hören auf den Esprit und Gründer-Geist in jeder und jedem von uns. Gründen ist das neue Wachstum.

Foto: privat

Dieser Text erschien ursprünglich im „Newsletter“ des Referats für Pastoraltheologische Grundsatzfragen der Stabsstelle Strategiebereich Pastoralentwicklung des Bischöflichen Generalvikariats Münster.


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