Ich bremse auch für Schafe – Über die Gestaltung von Veränderungsprozessen

Aus meiner Beraterpraxis heraus entstand das Anliegen, einmal auf die Hirt-Schaf-Perikopen zu schauen, die mir gelegentlich vorgehalten werden, wenn man meint, es ginge alles zu schnell, “keiner kommt mehr mit” und “es geht doch darum, die Herde zusammenzuhalten”. Gerne zitiert wird dabei eine bestimmte Bibelstelle.

Immer wieder gehört: “Nur 1 von 100 möchte etwas anderes. Dann lassen wir es lieber so, wie es ist.”

Nehmen wir mal an, von 100 Menschen würden nur einer nicht mitmachen wollen. 99 zu 1 – klares Ergebnis, sollte man meinen. Vielleicht noch ein wenig Mitleid, schade und so, aber dann: Egal.

Nicht so bei Jesus: “Wenn einer von euch hundert Schafe hat und eins davon verliert, lässt er dann nicht die neunundneunzig in der Steppe zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet?” (Lukas 15,4)

Dieser Vers wird gerne zitiert, wenn argumentiert werden soll, dass es in Kirche doch darum geht, die Herde beisammenzuhalten. “Ha, siehst du, da sagt der Chef es dir selber! Nix Kirche einfach mal vorantreiben, schön auf alle warten, jedem einzelnen hinterherlaufen.” Was ja nichts anderes als eine Chiffre ist für „Bitte keine Veränderung. Tut dann auch keinem weh.“ Doch, mir!

Ein Organisationsberater erkennt hinter der Intervention die A-Wörter im Umgang mit Veränderung: Angst und Abwehr. Aber was hilft das in diesem Moment?

Ich möchte Jesus verstehen. Und das geht weder durch Hineinreden noch zu schnelles Herausgreifen. Deswegen schaue ich mal genauer in die Perikope(n), aus der das Zitat stammt und die die Bildwelt Hirt-Schafe benutzen. Was lerne ich dort über Veränderungsprozesse?

Hinweis 1: Nicht leistbarer Verlust, sondern unverzichtbarer Gewinn.

Der für seine Zuhörerschaft entstehende Skandal in der Jesus-Rede bei Lukas 15 ist, wen er der Schafherde zugehörig sieht: den verloren gegangenen Sünder. Die synoptische Parallele bei Matthäus 18,12 formuliert noch schärfer und spricht nicht nur vom “verlorenen” sondern vom “verirrten” Schaf. Der Knackpunkt ist nun: Nicht das Hinterherlaufen und Beieinander-Halten ist Hauptaugenmerk Jesu, sondern die Integration des Sünders – meint: desjenigen, der abgesondert ist, am Rand oder draußen steht – in die Herde. Ich lese das nicht vorrangig moralisch, sondern auch soziologisch im Wissen um die Abkehr von und der zunehmend nie stattgefundenen Kontaktaufnahme vieler zur Kirche. Jesus sagt nun: Es ist Aufgabe des Hirten, jedes einzelne Schaf zu holen, auch wenn dafür die zusammenstehende Herde zurück- und sogar allein gelassen werden muss. Was ja mehr ist, als Offen für Rückkehrer zu sein.

Jesus geht es in der Bildrede von den 99:1 nicht um den leistbaren Verlust, sondern um den unverzichtbaren Gewinn. Das ist aber etwas anderes als das „Bitte-keine-Veränderung“-Postulat. Jesus sagt nichts gegen Veränderung, aber er legt ein Kriterium für Veränderung an: „Integriert die, die außen sind“. Veränderungsprozesse müssen von der Architektur und dem Tempo her so angelegt sein, dass dies klar wird und gelingt. Eben nach dem Motto: „Ich bremse für solche Schafe.“

An einer anderen Perikope lassen sich zwei weitere Hinweise für die Gestaltung kirchlicher Veränderungsprozesse ableiten.

Hinweis 2: Ein Hirt – viele Herden. Wo ist das Problem?

In Johannes 10 stellt sich Jesus als der gute Hirte da. Stutzig werde ich bei Vers 16. Jesus sagt dort: “Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören.”

Wie, Schafe aus einem anderen Stall? Ein Hirt, der mehrere Herden hat? Was ist das denn für ein Kirchen- und Leitungsbild, wenn ich den Hirt mal mit einem Priester oder in mustertreuer Verlängerung mit einem Hauptamtlichen der Amtskirche oder “innovativ” mit ehrenamtlich Beauftragten gleichsetze? Und mir fällt ein, was ich vor Jahren einmal vom Osnabrücker Generalvikar Theo Paul gelesen habe: „Ich bin häufiger an der Nordsee … [Dort] gibt es viele grasende Schafe, nur Hirten sieht man nicht. An der Nordsee bringt der Hirte die Schafe frühmorgens auf die Weide und den Deich. Dort haben sie alles, was sie für ein gutes Leben brauchen – Gras, Wasser, frische Luft. In den Sommermonaten bleiben sie Tag und Nacht dort. Zwischendurch schaut der Hirte vorbei.“(1) Ich erinnere mich auch an diese Schafherde auf der Bodensee-Halbinsel Höri. Am Gatter war ein Schild befestigt: „Im Notfall bitte Hirten anrufen, Telefon 017…“.

In der Tat organisiert sich eine Schafherde ganz gut alleine, wie Biologen wissen. Es gibt Clans, Familien, Leittiere, Gruppendynamik – das funktioniert. Aber es gibt Grenzen und dann (wählen Sie an dieser Stelle bitte für sich aus: “erst” oder “natürlich”) braucht die Herde Führung: Wenn Gefahr droht, braucht die Herde Schutz. Wenn der Weidegrund nichts mehr hergibt, braucht es den Wechsel auf eine andere Wiese.

Das Jesus-Wort verdient für Kirchenentwicklung Beachtung: Wird sich genug Zeit genommen, dass bei Jesus entgegenkommende Hirtenmodell zu rezipieren oder vorschnell bewohnte Muster verlängert? Woran wird eine lebendige, funktionierende Gemeinde festgemacht? Und ist es nicht auch bei Gemeinden so, dass es den Moment geben kann, wo der “Weidegrund” nichts mehr hergibt? Was sind Kriterien dafür, das festzustellen? Wäre dann nicht auch Wandel angesagt, worin würde er bestehen und wer initiiert diesen?(2)

Hinweis 3: Führung führt die Herden zur Einheit, nicht zur Fusion.

Vers 16 geht aber noch weiter. Jesus benennt nämlich eine Zielperspektive für Veränderung: “Dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.” Es geht ihm um die Einheit. Allen Pastoralplanern muss dabei gesagt sein: Damit ist keine Stallfusion gemeint! Sondern der Weg vom Neben-, zum Zu- bis zum Miteinander.

Da Menschen jedoch genauso wie Schafe bockig sein können, hilft kein Ziehen und Zerren, sondern am Besten ein Locken in eine neue, verheißungsvolle Umgebung. Die Einheit, von der Jesus spricht, ist also keine Anordnung, keine reine Strukturplanung, sondern eine Führungs- und Begleitungsaufgabe zu einem neuen Zustand.

Die Herausforderung lässt sich gut systemtheoretisch beschreiben: Entwicklung – gerne ganz wörtlich verstehen – ereignet sich durch die Ausbalancierung von Identität/Stabilität und der Integration von Außenreizen (… die sogenannte „System-Umwelt-Referenz“). Die zunächst so empfundenen Störungen dürfen weder ausgeblendet oder ignoriert werden, genauso wenig kann man nicht so tun, als gäbe es sie nicht oder müsse nur einen Schalter umlegen. Sie müssen von innen her positiv integriert werden. Kirchenentwicklung mit Menschen gelingt entsprechend dann, wenn man diesem Umgang der Menschen mit Veränderung gerecht wird. So wie, nach Albert Einstein, die besten Mitglieder einer Schafherde ja auch Schafe sind.

Conclusio

Geht es bei Kirchenentwicklung um Veränderung um der Veränderung willen? Wird die „lernende Organisation“ nicht vorschnell gehypt? Geht es nicht vor allem um die Pflege derer, die da sind? – Das sind Rückfragen, denen ich mich ausgesetzt sehe, wenn ich von Kirchenentwicklung spreche.

Ja, es geht nicht um Veränderung um jeden Preis, sondern um Kirchenentwicklung mit Gewinn. Die betrachteten Bibelverse machen Aussagen zu Ziel der Pastoral, Führungsqualitäten, Basisparadigmen und menschengerechter Gestaltung von Veränderungsprozessen. Für eines lässt sich Jesus aber nicht herbeizitieren: Stillstand und Status-Quo. Das Reich Gottes entsteht im Werden.

 

(1) Paul, Theo (2013): Berufungspastoral nach innen. In: Müller, Philipp und Schneider, Gerhard: Ein Beruf in der Kirche? Fragen der Berufungspastoral. Grünewald, Mainz. Seite 94-104. S. 101.

(2) Vgl. dazu Hundertmark, Peter (2014): Gemeinden gründen. Skizzen für eine Selbstorganisation der Christgläubigen. Plöger-Medien, Annweiler. Video mit dem Autor hier.

Foto: Schafherde auf der Halbinsel Höri am Bodensee, (c) Jan-Christoph Horn


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