Nähe und Weite statt Enge und Ferne – Studientag zur XXL-Pfarrei

Im Jahr 2015 veröffentlichte die Arbeitsstelle für missionarische Pastoral der Deutschen Bischofskonferenz (KAMP) eine Studie, in der es um eine Bewertung der in den letzten Jahren fast in allen deutschen Diözesen eingerichteten Grosspfarrei als Lebeweise lokaler Kirche ging. Im November 2015 fand dazu ein Studientag im “Haus am Dom” Frankfurt/Main statt, von dessen Inhalten ich berichten möchte.

Die “XXL-Pfarrei”, die als Maßnahme aufgrund personeller und finanzieller Verknappung unter den Vorzeichen gegebener Amtstheologie und kirchenrechtlicher Strukturvorgaben eingerichtet wurde, ist keine kreative Lösung und keine von der Kirchenleitung bewusst gesetzte Invention/Innovation – das behauptete in Frankfurt niemand. Aber sie birgt in einer gewollt positiven Lesart Potentiale, die manches, v.a. im urbanen Kontext, besser zutage treten lässt, was Bedingungen des Kirche-Seins in der heutigen Zeit betrifft. Man mag das “Mitnahmeeffekt” nennen oder “Das Beste draus machen”, aber es war die Grundhaltung der versammelten Pastoraltheologen, Seelsorgeamtsvertreter, Pastoralreferenten und Gemeindeentwickler, sich einmal so dem Thema zu nähern.

 

Die Pfarrei ist keine hinfällige Struktur

Hubertus Schönemann von der KAMP zitierte in seinem Eingangsstatemen Papst Franziskus aus Evangelii Gaudium (Nr. 28): „Die Pfarrei ist keine hinfällige Struktur. Gerade weil sie eine große Formbarkeit besitzt, kann sie ganz verschiedene Formen annehmen, die die innere Beweglichkeit und die missionarische Kreativität des Pfarrers und der Gemeinde erfordern. Obwohl sie sicherlich nicht die einzige evangelisierende Einrichtung ist, wird sie, wenn sie fähig ist, sich ständig zu erneuern und anzupassen, weiterhin die Kirche sein, die inmitten der Häuser ihrer Söhne und Töchter lebt.“ – Der Papst legt eine Pastoraltheologie der fluiden Pfarrei in einer flüchtigen Moderne (Zygmunt Baumgart) vor. Wobei Papst Franziskus nicht neuerdings als postmoderner Gesellschaftstheoretiker auftritt, sondern seiner Wurzel als lateinamerikanischer Theologe des Prozesses, ignatianisch geschult, ganz treu bleibt.

Für Schönemann bedeutet die XXL-Pfarrei genauso wie für die Bischöfe nicht einfach eine Skalierung des bisherigen Pfarrei-Systems, sondern eine (für Deutschland) neue Weise, Pfarrei zu bilden. In der Transformation dahin stellen sich dabei verschiedene Fragen, bei denen die bisherigen Antworten “alt” aussehen – die Fragen nach Zugehörigkeit (woran bindet man sich?), nach Zugang/Access und nach Partizipation (Teilhabe und Mitbestimmung).

Und es gibt auszuhandelnde Aspekte, eine notwendig neue Konfiguration von Positionen: zwischen Stabilität und Fluktuation, zwischen Zentralität und Dezentralität, zwischen Mitte und Rand, zwischen Service und Beheimatung, zwischen Grunddiensten und Charisma, zwischen Beauftragung und Amt.

 

Pfarreientwicklung – mehr Transformation als Strukturanpassung

Nach diesen grundlegenden Gedanken übernahm es Bernhard Spielberg, Pastoraltheologe aus Freiburg/Breisgau, einen “Pastoraltheologischen Kommentar” zu geben. Und er schöpfte aus dem Vollen.

Zum Transformationsprozess bemerkte Spielberg zwei Gefahrenquellen.

Zum einen, das die Phase der Selbstbeschäftigung von der System/Umwelt-Koppelung ablenkt, die aber bei den Veränderungsdynamiken der Gesellschaft unabkömmlich ist. Sonst kommt die reorganisierte Kirche frischerneuert aus der Umwandlung in eine Umwelt, die sich ihrerseits schon längst weiterentwickelt hat. “Hereinforderung” nannte Spielberg diese Herausforderung.

Eine zweite Gefahr machte er am “Tassenproblem” fest: Eine Tasse steht zu 80% der Zeit im Schrank. Wie ineffizient. Aber keiner käme auf die Idee, die Tasse dem Schrank anzupassen. Auf das Verhältnis von Pfarrei und Gemeinde angewandt: Wer muss sich hier eigentlich wem anpassen?

Ein in den Personalabteilungen der Ordinariate zwar angekommenes, aber – meine Hypothese: Musterveränderung ist mehr als Strukturanpassung – nur zögerlich bearbeitetes Thema ist die Rollenveränderung im priesterlichen Dienst. Aus der Trias “Priester = Hirt, Leiter, Pfarrgemeinde” bleibt, so Spielberg, in den Großpfarreien mit ihren Teams und überörtlichen Beziehungs- und Managementbezügen nichts übrig, nichts außer der Urdienst des sakramentalen Priestertums.

Überhaupt: das Kirchenbild. Spielberg öffnete hier auch einen geistlichen Raum und fragte den pastoralen Mainstream des “missionarisch Kirche-sein” augenzwinkernd an: Wer hat eine Mission? Nicht die Kirche hat eine Mission, Gott hat eine Mission. Er zitierte das Konzilsdokument Unitatis Redintegratio (Nr. 6): „Jede Erneuerung der Kirche besteht wesentlich im Wachstum der Treue gegenüber ihrer eigenen Berufung.“

Spielbergs pastoraltheologischen Grundsatz lautet, nicht originell: “Pastoral ist die Verortung des Glaubens im Heute”. Die drei Variablen in der Gleichung – Verortung, Glaube, Heute – gilt es immer wieder neu zu buchstabieren, denn Pastoral ist kein Konzept, sondern Verhalten. Zwei anregende Zitate aus seinem Vortrag: “Verorten ist nicht erobern”, “Glauben ist die Kunst, mit dem Geheimnis und den Paradoxien des Lebens zu leben”. Das in ein Pastoralkonzept hinein zu formulieren, wird Freude machen.

Als Methode des Kirche-werdens stellte Spielberg Effectuation vor, also angesichts komplexer Ungewissheit mittelorientiertes Entrepeneurship (Gründen statt Verwalten) unter Beachtung des leistbaren Verlusts. Ein spannendes Refraiming organisationsentwicklerischer Standards! Jede andere Form von Kirchenentwicklung, so Spielberg pointiert, hat eher etwas von “Sterbeverzögerung”.

Pfarreien braucht es, so Spielberg am Schluss. Es braucht sie als Ermöglichungsrahmen. Ein Ermöglichungsrahmen aber braucht eine Ermöglichungskultur. So wird die Pfarrei (skalierbar) ein Orientierungspunkt sein. Ein Beziehungspunkt ist sie nicht, denn Vergemeinschaftung und Identifikationspunkt braucht lokale Nähe, die Gemeinde.

 

Kirchenentwicklung konkret – Blick in verschiedene Diözesen

Auf dieses Feuerwerk folgten verschiedene Repliken aus Diözesen, eine Art “Werkstattbericht” der pastoralen Entwicklung in der römisch-katholisch verfassten Kirche. In der Summe zeigte sich, wie groß die qualitativen Unterschiede in der Bearbeitung der Probleme sind und/oder wie unterschiedlich auch die Situation der Veränderungsnotwendigkeit.

Einige Notizen:

Andreas Fritsch aus dem Bistum Münster blickte selbstkritisch auf die Rolle der Ordinariate. Sie müssen selber die Veränderungen mitmachen, am besten sogar vorangehen. Und der eher ausbleibende “Hurra-Effekt” an der Basis durch die Angebote der diözesanen Vordenker lässt ihn nachdenklicher auf den Umgang mit Zeit und Tempo von Veränderung blicken und auch den blinden Fleck sehen, dass ein schönes Bistumskonzept nicht zwangsläufig zu blühenden Landschaften führt. Ein grundsätzlicher Hemmschuh von Veränderung bleibt auch das Festhalten am absolutistischen Raumprinzip in der Pfarreigestaltung. Solange “Gemeinde” in den Köpfen immer noch etwas mit Amt, Gebäude, Gebiet zu tun hat, bleibt der Entwicklungsimpuls für Gemeindeentwicklung in Großpfarreien auf halber Strecke liegen. Schließlich appellierte Fritsch an die Grundhaltung: Wer nur deprimiert und belämmert dasteht, kann auch nur Deprimierendes schaffen. Umgekehrt, mit Václav Havel: “Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.”

Martin Wrasmann aus den Bistum Hildesheim eröffnete eine interessante Perspektive für das Selbstwertgefühl der Kirche: Er sieht aus seiner Erfahrung drei Stärken der Kirche heute: 1. Moderator und Mediator sozialer Prozesse sein. 2. Events anbieten, also professionelle, erfahrungsreiche Berührungspunkte. 3. Pastorale Qualität im Sinne Jesu leisten können, nämlich, dass sich die – weitverstandene – Armut am Ort der Sendung verringert.

Von Thomas Kiefer aus dem Bistum Speyer blieb mir vor allem hängen, dass er sehr eindringlich auf die Notwendigkeit der Arbeit an geteilter Leitung und dem Zu- und Miteinander der haupt- und ehrenamtlichen Rollen hinwies. Da solle man nicht groß rumlaborieren, sondern es braucht Klarheit.

 

Rollenbilder und katechetische Prozesse im neuen Kontext

In der letzten Phase des dichten und kurzweiligen Studientages gab es kollegiale Arbeitsgruppen, in denen man verschiedene Aspekte vertiefen konnte. Durch die gute Tagungsdokumentation konnte ich aber aus allen Gruppen an den Früchten partizipieren. Aus zwei Gruppen scheint mir das lohnenswert:

In der Gruppe “Rollen” kam das Bild des “Liberos” auf, das in den XXL-Pfarreien sinnvoll ist und den (hauptamtlichen) Dienst neu konfigurieren lässt – unabhängig von der kirchlichen Berufung als Laientheologe, Diakon oder Priester. Eher Ermöglicher als Versorger, eher Entwickler als Kümmerer, eher Begleiter von Subjekten als Leitung von Objekten – das waren andere Begrifflichkeiten. Spannend auch die Aussage, dass die eigene Berufung nicht das Hauptamt ausmachen muss, sondern der professionelle Dienst. Da heutzutage aber der hauptamtliche Dienst zwischen der Definitionsmacht des Pfarrers einerseits und freiwillig Engagierten andererseits zu zerrieben werden droht, braucht es hier Antworten, bishin zu der Frage, warum man sich bei knappen Finanzmitteln überhaupt jemanden Hauptamtlichen leistet. Auch die Frage der (symbolischen) Entlohnung im “Ehrenamt” stellt sich zunehmend, da hier – durchaus sinnvolle – Professionalisierungstendenzen (Qualifikation, Beauftragung, Leitung) wahrzunehmen sind.

In der Gruppe “Formate der Glaubensteilhabe und -verkündigung”, in der ich auch mit dabei war, stellten wir zunächst eine Herausforderung der Katechese in den großen Pfarreien fest: Die bisherigen Konzepte sind nicht skalierbar, die Ressourcen für eine “Großkatechese” nicht vorhanden, die für Katechese so wichtige Beziehungsdimension zumindest nicht rein Hauptamtlichbdarstellbar. Wer Goßpfarrei sagt, muss Katechese also neu denken. Das aber ist auch eine Change. Denn im Idealfall stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit.

Anregend fand ich das Bild der “katechetischen Hotspots”, also eine im relevanten Moment verfügbare Sinndeutung. Katechese ereignet sich in diesem Konzept im “Zwischenraum”, in wenig konzeptualisierbaren Orten und Ereignissen. Großpfarreien bieten hierfür zwar vielleicht nicht automatisch qualitativ, aber ganz sicher quantitativ mehr Raum und damit dafür mehr Aufmerksamkeit.

In Großpfarreien sind schließlich die beiden Phänomene der Katechese in postmodernen Kontexten deutlich ablesbar: 1. Katechese als Pilgerschaft und durch Authentizität des Verkündigenden (vgl. Apg 8, 31). 2. Katechese als Dienstleistung an passageren Momenten der individualisierten Biographie. In beiden Fällen blieb festzuhalten, dass Katechese nicht Deckungsgleich mit Sozialisation/Evangelisierung als auch mystagogischer Erfahrung ist.

 

… in guter Weise

Nach Abschluss der Studientagung mit Gang durch das Bahnhofsviertel von Frankfurt und der Rückfahrt mit Berufspendlern gen Münster wirkte das intensive Mit- und Nachdenken über Kirche und Pfarrei in guter Weise. Ich fühlte mich verortet in dieser Welt und gleichsam als Exot. Vielleicht haben sich ja andere über mein entspanntes Lächeln gefreut. Und es hat ihnen gutgetan.

 

Foto: Regatta auf dem Bodensee, (c) Jan-Christoph Horn


Beitrag veröffentlicht

in

von