(Dies ist Teil 2 des Artikels über die Studie der Church of England „From Anecdote to Evidence“. Zum Teil 1 geht es >> hier entlang <<)
Im ersten Teil hatte ich über das Verständnis von Wachstum der Church of England geschrieben, wie es in der Studie „From Anecdote to Evidence“ skizziert ist. Im zweiten Teil geht es nun um eine der Grundvorraussetzungen für dieses Wachstum: Die Fähigkeit zur Reflexion.
Die Studie wollte herausfinden, woran es liegt, dass an einigen Orten trotz aller Schrumpfungstendenzen der Church of England Wachstum gelingt. Als Ergebnis benennt die Studie „grundlegenden Zutaten“ für das Wachstum, die bei den wachsenden Gemeinden identifiziert wurden. Zwei der Zutaten hatte ich schon im ersten Teil des Artikels erwähnt: Den Willen der Verantwortlichen zum Wachstum und eine klare Mission. Insgesamt nennt die Studie sieben Kriterien:
- Gute Leitung („Good Leadership“)
- Eine klare Mission und ein klarer Zweck
- Bereitschaft zur Selbstreflexion, zur Veränderung und Anpassung in Abhängigkeit zu den kontextuellen Gegebenheiten
- Beteiligung von Laien
- bewusst dem Wachstum die Priorität geben
- bewusst die Liturgieformen wählen
- bewusst die Jüngerschaft pflegen („Being intentional in nurturing disciples“) 1
Professor David Voas, der in der Studie den Bereich Datenanalyse und Gemeindeprofile verantwortete, schreibt hierzu:
„Es gibt kein bestimmtes Rezept für Wachstum und es gibt keine einfachen Lösungen angesichts des Rückgangs. Der Weg zu Wachstum hängt vom Kontext ab und was an einem Ort funktioniert, klappt nicht unbedingt an einem anderen. Entscheidend ist, dass die Gemeinden zu einem permanenten Reflexionsprozess bereit sind; Gemeinden können nicht im Autopilot fahren.[…]“ 2
Ohne Reflexion kein Wachstum
Im ersten Teil des Artikels hatte ich bereits beschrieben, dass es nach christlicher Überzeugung zwar Gott ist, der die Kirche wachsen lässt, dies aber die Kirche nicht davon entbindet, ihre eigene Wirksamkeit zu reflektieren. Sie muss sich schon mit der Frage beschäftigen, ob und wie gut Wachstum in den von ihr geschaffenen Rahmenbedingungen gelingt. „Reflexion“ in der Kirchenentwicklung bedeutet daher meines Erachtens, zu versuchen, das gottgewirkte Wachstum zu erkennen und entsprechende Rückschlüsse auf das eigene Tun zu ziehen.
Wie wichtig die Reflexion der eigenen Wirksamkeit in der Entwicklung von Pfarreien und Gemeinden ist, sehe ich auch in meiner Arbeit als Gemeindeberater: Prozesse ohne ausreichende Reflexion sind meist erfolglos, sie versanden oder werden zu „never-ending-projects“. Denn ohne eine wirksame Reflexion gilt – bewusst oder unbewusst – die Devise: „Weiter so“. Der Betrieb geht unter Beibehaltung erlernter Denkstrukturen, Verhaltensweisen und Handlungsmuster weiter so „wie immer“. Kirche wird dann so gemacht wird, wie es erlebt und erlernt wurde.
Dabei ist der Ansatz, Erlerntes anzuwenden, natürlich erst einmal nicht schlecht. Er läuft nur ohne ein Hinterfragen, ob Lösungsansatz und Problem zueinander passen, ggf. ins Leere. Die Bereitschaft zur Selbstreflexion, zur Veränderung und Anpassung in Abhängigkeit zu den kontextuellen Gegebenheiten ist entscheidend für den Erfolg der Entwicklungsprozesse.
Ohne Reflexion kein Wachstum. Daher erscheint es mit angebracht, hier die unterschiedlichen Ebenen, auf denen eine Reflexion der eigenen Wirksamkeit stattfinden kann, zu differenzieren:
Ebene 1: Reflexion des Handelns
Die erste Ebene nimmt das eigene Handeln in den Blick:
- Mache ich das, was ich gerade mache, richtig? Welches Wachstum ist in meiner Gemeinde zu messen? In welchen der drei Dimensionen wächst die Gemeinde wie stark (vgl. Teil 1)? Kann ich etwas besser oder einfacher machen? – Es geht also um Effizienz, Optimierung, Zielerreichung.
- Mache ich gerade die richtigen Dinge? Setze ich meine Ressourcen an der richtigen Stelle ein? In welchen Bereichen möchte / kann ich Wachstum erreichen? Kann ich vielleicht andere Dinge tun, um besser meine Ziele zu erreichen? Sind meine Ziele noch richtig? – Es geht also um Effektivität, Strategie, Zielsetzung.
Aber allein mit der Reflexion des Handelns ist es nicht getan. Ich erlebe auch Gemeinden, die zwar ihr Handeln hinterfragen, aber dennoch in ihrer Entwicklung stehen bleiben. Hierzu ein Beispiel:
Eine Pfarrei wollte „neue Wege“ gehen und war mit einem eigenen Stand auf dem lokalen Weihnachtsmarkt der Stadt präsent. Mit viel Energie wurde der Stand gestaltet, die Betreuung durch Ehrenamtliche organisiert und viele Flyer gedruckt. Nach der Aktion herrschte große Enttäuschung: „Wir haben mit so vielen Menschen geredet, aber keiner hat unsere Flyer mitgenommen.“
Was war passiert? Obwohl quasi „Neuland“ betreten wurde, geschah dies in den erlernten und verinnerlichten Denkmustern. Die bestehenden Erwartungen und Interpretationsmuster wurden auf die neuen Kontexte übertragen. Die Erwartungshaltung war: Wir machen Werbung für unsere Gottesdienste und Gruppen, laden die Menschen dazu ein und dann kommen sie zu uns. Ein sehr „volkskirchlich“ geprägtes Kirchenbild wurde sichtbar. Der Weihnachtsmarkt war letztlich nur ein neues Marketinginstrument für die Pfarrei.
An dieser Stelle steht ein Gremium (der Berater würde sagen „ein System“) in seiner Entwicklung an einer kritischen Stelle: Gelingt es dem System, seine eigene Situation „anders“ wahrzunehmen?
Ebene 2: Reflexion der Grundannahmen
Eine zweite Ebene der Reflexion wird notwendig. Denn wenn jetzt nur allein das Handeln hinterfragt wird, wird vermutlich das Ergebnis lauten, dass das Marketinginstrument „Weihnachtsmarkt“ nicht funktioniert und dass Aufwand und Nutzen in keinem akzeptablen Verhältnis stehen.
Möglich wäre aber auch ein Perspektivwechsel, um die Erkenntnis zu gewinnen, dass z.B. der Weihnachtsmarkt auch ein Ort des Kirche-seins sein kann oder dass Gespräche am Weihnachtsmarkt auch Verkündigung des Evangeliums sein können. Vielleicht lässt Gott ja gerade hier die Kirche wachsen?
Das Problem ist, dass diese Perspektive für das System derzeit weder denk- noch sichtbar ist. Die verinnerlichten Grundannahmen prägen die Wahrnehmung und Deutung. So wird eine zweite Ebene der Reflexion notwendig, um die kollektiv verinnerlichten Grundannahmen zu hinterfragen.
Hierzu ein kurzer Ausflug ins Systemische: Pfarreien und Gemeinden sind als Organisationen keine trivialen Systeme, wie bspw. Maschinen, die von außen gesteuert werden. Es sind soziale Systeme, die autonom arbeiten und sich selbst organisieren. Und soziale Systeme sind letztendlich „Kommunikationssysteme“, in dem Sinne, dass sie über Wahrnehmung und Deutung sowie Sprache und Verhalten von den Systembeteiligten geschaffen werden. Im Gegensatz zu einer festgeschriebenen Organisationsstruktur existieren Systeme also nicht per se als eigenständige Größe, sondern werden stets neu von den Beteiligten konstruiert.
Hier liegt die Chance auf Änderung und auch der Ansatzpunkt der (Selbst-)Reflexion. Fritz B. Simon, einer der führenden Köpfe in Forschung und Lehre zur systemischen Organisationsentwicklung schreibt in der Tradition Luhmanns:
„Was das System aufrecht erhält, ist aber nicht die Kontinuität der Personen, sondern die Kontinuität der Kommunikation.“3
Organisationen als soziale Systeme können sich also ändern, wenn sich die Kommunikation des Systems (im Sinne von Wahrnehmung und Deutung sowie daraus sich ergebend Sprache und Verhalten) ändert. Genau dies adressieret die zweite Ebene der Reflexion: Es geht um die Entwicklung der Wahrnehmungen, ihrer Deutungen sowie der individuellen und kollektiven Erwartungen, Denkmuster und Haltungen. Für die Organisationsentwicklung ist diese Ebene die entscheidende!
Reflexion? Im Tun!
Die Entwicklung der kollektiven Grundannahmen einer Organisation ist dabei weniger eine kognitive oder analytische Entwicklung, sondern mehr eine, die über Erfahren und Verinnerlichen funktioniert. Denkmuster in Organisationen sind verinnerlichte Handlungsroutinen.
Es liegt daher nahe, eine Entwicklung der Grundannahmen ins alltägliche Tun der Organisation zu integrieren und sie als Teil des Tuns zu verstehen. Es muss ein Regelkreis des Lernens entstehen, der die gewonnenen Erkenntnisse aus den vorherigen Schritten in die kommenden einspielt. Holzschnittartig sei hier auf zwei Vorgehensweisen hingewiesen, die ich beide für geeignet halte, Erkenntnisgewinn „im Tun“ zu erzeugen:
- Gut systemisch ist es, in kurzen Zyklen Hypothesen zu bilden und zu testen. Wenn man so will ist dies ein kontinuierliches „Sehen-Urteilen-Handeln“ in kurzen Zeitabständen. Der Erkenntnisgewinn kommt hier aus der Analyse, also dem „Urteilen“.
- Das „Effectuation“-Modell ist stärker handlungsorientiert. Es fragt: „Was kann ich JETZT mit meinen verfügbaren Ressourcen tun? Wen kenne ich? Der Erkenntnisgewinn kommt hier aus dem Handeln. Wenn man so will ein kontinuierliches „Handeln-Sehen-Urteilen“.
Ebenfalls holzschnittartig sei hier angemerkt, dass eine Voraussetzung für beide Modelle eine funktionierende Kopplung der Organisation mit ihrer Umwelt („System-Umwelt-Beziehung“) ist. Eine Organisation entwickelt sich, wenn Wechselwirkungen zwischen ihr und ihrer Umwelt entstehen und sie auch bereit ist, ihr Handeln durch den Kontakt zur Umwelt zu verändern. Ohne Kontakt nach außen keine Haltungsänderung.
Fazit
Die „Bereitschaft zur Selbstreflexion, zur Veränderung und Anpassung in Abhängigkeit zu den kontextuellen Gegebenheiten“ ist für mich als systemischen Organisationsentwickler die wichtigste Zutat für das Wachstum. Sie ermöglicht es, durch Rückkopplung der eigenen Situation und der gemachten Erfahrungen auf das kommende Handeln zu lernen und sich zu entwickeln.
Ich denke, dass auch hiesige Prozesse zur Kirchenentwicklung gut daran tun, diesen Punkt noch stärker zu betrachten, mit all seinen – manchmal auch unbequemen – Konsequenzen:
Bereitschaft zur Selbstreflexion …
- Es reicht nicht aus, alle Jubeljahre mal eine Reflexion durchzuführen. Es muss ein regelmäßiger, ja kontinuierlicher Prozess sein. Lernen ist eine Frage der Haltung und muss alltägliche Routine und Bestandteil des Tuns werden.
- Es reicht nicht aus, reflektorisch nur auf die Inhalte zu schauen. Eine wirksame Selbstreflexion schaut vor allem auf die eigenen Grundannahmen und Haltungen. Im Fokus steht nicht „die Gemeinde“ oder „die Kirche“, sondern ich selber, mit meinen Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen.
… zur Veränderung und Anpassung …
- Es reicht nicht aus, nur zu einer neuen Erkenntnis zu gelangen, sondern sie muss auch Konsequenzen im Verhalten haben. Ohne eine Änderung in meinem Verhalten verpufft die Erkenntnis.
- Es reicht aber auch nicht aus, einfach nur „andere Dinge“ zu tun. Ohne eine Änderung der eigenen (Grund-)Annahmen wird ein verändertes Verhalten zu Aktionismus.
- Es reicht nicht aus, nur Organisationsberatung ins Haus zu holen. Als Berater können wir lediglich Lernräume eröffnen, reingehen und lernen müssen die Beteiligten schon selber.
… in Abhängigkeit zu den kontextuellen Gegebenheiten
- Es reicht nicht aus, einen Entwicklungsprozess „für sich“ oder „als Gremium“ zu machen. Die relevante Umwelt muss mit ins Boot. So manche Sozialraumanalyse hat schon zu heilsamen Überraschungen geführt.
- Es reicht auch nicht aus, seine Umwelt „zu kennen“. Eine gelingende System-Umwelt-Beziehung ist es erst, wenn wirklich Wechselwirkungen entstehen und man bereit ist, sein eigenes Handeln durch den Kontakt zur Umwelt zu verändern.
- http://www.churchgrowthresearch.org.uk/UserFiles/File/Reports/FromAnecdoteToEvidence1.0.pdf, S.8, eigene Übersetzung ↩︎
- „Faktencheck – Mehr als nur Geschichten, S.11 http://www.zmir.de/wp-content/uploads/2017/01/Faktencheck_webscreen.pdf ↩︎
- Fritz B. Simon: Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus, S.115 ↩︎
Foto: Kaleb Nimz on Unsplash