Der Übergang von Volkskirche zu … etwas anderem?!

Immer wieder taucht die Frage nach der Relevanz von Kirche für die Gesellschaft auf (vgl. „Die Relevanzdebatte ist eröffnet“ auf feinschwarz.net). Diese Diskussion ist eine alte Diskussion, die seit der Entstehung der Kirche geführt wird: in welchem Verhältnis steht die Kirche mit ihrer Sendung („System“) zur Gesellschaft („Umwelt“). Virulent wird diese Fragestellung in der heutigen Zeit, weil die System-Umwelt-Kopplung immer schlechter zu gelingen scheint. Kirche wandelt sich heutzutage in ihrer gesellschaftlichen Rolle fundamental. Hier möchte ich zwei Aspekte dieser Argumentation aufgreifen, die mir in dieser gesamten Gemengelage zu kurz kommen.

Vorbemerkung: Kirche in einem Veränderungsprozess

Wir kommen aus den letzten Jahrzehnten einer volkskirchlichen/staatskirchlichen Struktur. Die Kirche(n) und Religion hatte gesellschaftsprägende Auswirkungen, was wir an den durch staatliche Entscheidungen arbeitsfreien kirchlichen Feiertagen, etc. sehen können. Kirche hatte Einfluss auf Gesellschaft und Politik und war normsetzend im System. In den letzten Jahrzehnten hat sich diese gesellschaftliche Macht stark reduziert: nicht nur geht die Zahl der Kirchenmitglieder zurück, auch wird der normsetzende Anspruch der Kirche dadurch relativiert, dass sie innerhalb der vielfältigen Gesellschaft eben nur noch ein Akteur unter vielen ist. Die Frage, ob Kirche überhaupt noch im gesellschaftlich-politischen Steuerungssystem Einfluss hat, kann nicht eindeutig beantwortet werden.

In diesem Übergang von volkskirchlichen Strukturen zu etwas Neuem befinden wir uns. Mir gefällt der Begriff „Entscheidungschristentum“ dafür sehr gut, denn er beschreibt die qualitative Veränderung, der Religion unterliegt. Menschen sind nicht mehr per „default“, also per „Standardeinstellung“ christlich, sondern nur noch als „opt in“, also in einem selbstgewählten Modus. Dies kann man bedauern und betrauern oder auch Chancen darin entdecken; bezweifeln kann man wohl nicht mehr, dass die Veränderung weiter voran schreitet.

Relevanz: Macht und Einfluss oder Bedeutung?

Die Kirche verliert also seit einigen Jahren Macht und gesellschaftlichen Einfluss, den sie seit Jahrhunderten genossen hat. Dies tut weh und ich kann das gerade für diejenigen nachvollziehen, denen ihre Kirche (und deren Einfluss) sehr am Herzen liegt. Ich persönlich finde das unproblematisch, denn in einer pluralen Welt sind Kirchen ein Sinnanbieter unter vielen. Und Kirchen können sich mit ihrem „Produkt“ diesem „Markt“ durchaus stellen, auch wenn sie darin durch die historische Situation eines Monopols fast keine Übung haben.

Problematischer finde ich die zweite Ebene, die in der Relevanzdiskussion anklingt: der Bedeutungsverlust des Glaubens für den einzelnen Menschen. Wenn wir die These des Entscheidungschristentums ernst nehmen, muss die Kirche hier in einen anderen Modus schalten: Überdacht werden müssen die Haltungen wie „so ist es“ und „so soll es sein“, denn das erreicht die „Nutzer“ nicht mehr. Was ist wirklich „unabänderlicher Kern des Glaubens“, welche Tradition kann dem Menschen gemäß angepasst werden?

Hinkommen müssen wir zu einem Werben, zu einem Begleiten, zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit dem Glauben. Wenn Menschen nicht mehr aus Tradition zur Kirche kommen, sondern nur noch, weil sie sich dafür entscheiden, weil sie etwas damit verbinden, weil sie etwas davon haben, dann braucht es ein Angebot daraufhin. Und dieses Angebot fehlt häufig noch, weil wir weiter in volkskirchlichen Strukturen denken und erwarten, dass die Menschen schon kommen werden. Beispielsweise taucht in vielen Pastoralkonzepte im Rahmen der Restrukturierung im Erzbistum Hamburg die Zielvorstellung der „Gemeinde“ auf. Dies ist aber für viele suchende Menschen keine attraktive Zielformulierung, weil sie eine Sozialform beschreibt. Und gehört diese Sozialform zum Kern des Glaubens?

Hier zitiere ich sehr gerne Prof. Rainer Bucher:

„Das Evangelium dieser Welt zu erschließen, indem sie es von den Menschen dieser Welt
her entdeckt, dieses Entdeckungsgeschehen ist das Kerngeschäft der Kirche. Das Konzil
nennt es übrigens „Pastoral“. Alle Sozialformen in der Kirche sind dazu da – und nur dazu.“ (Manuskript Bucher Katholikentag 2008)

 

Und die Hauptamtlichen!

Aus Sicht des Organisationsberaters kommt hier das hauptamtliche Personal in den Blick, denn mit dieser Zielgruppe arbeiten wir am häufigsten. Die meisten Angestellten in Kirche sind kirchlich sozialisiert und im „alten Modell“ aufgewachsen. In Bewerbungsgesprächen sagen mir das zukünftige Jugendreferent*innen immer wieder, und sie verstehen es als Qualitätskriterium. Sie wissen, „wie der Hase läuft“. Das war über viele Jahre auch ein hilfreicher Aspekt. In Zeiten eines angehenden Entscheidungschristentums kann es aber zum Hinderungsgrund werden, die Zukunft adäquat mitzugestalten.

Hauptberufliche sollen zukünftig anders arbeiten, was immer wieder zu Irritationen und Widerständen führt. Dies ist auch sehr verständlich, weil sie es über Jahre so volkskirchlich gewohnt waren. Die sich stellende Aufgabe ist es nun, nicht nur Verhalten und Interaktionen zu verändern, sondern auch die zugrunde liegenden Wahrnehmungs- und Denkmuster in Frage zu stellen und zu verändern. Beispielsweise hat das Kirchenbild, mit dem ich aufgewachsen bin, Auswirkungen auf mein konkretes Verhalten. Soll ich nun mein Verhalten ändern (nämlich anders arbeiten), dann muss ich auch an meinem Kirchenbild arbeiten.

Die wenigsten „Pastoralen“ haben einen Bruch in ihrer (Glaubens-)Biografie, so dass sie ihr „Kirche-sein“ häufig so leben, wie sie es selbst gelernt und erlebt haben. Doch dabei ist manchmal der Kern aus dem Blick geraten. Das sagt weniger etwas über die Qualität ihrer Arbeit aus, sondern mehr darüber, welche Zielgruppe sie in ihrer Arbeit gut erreichen können.

Wenn pastorale Mitarbeiter zukünftig vor allem Menschen begleiten und qualifizieren sollen, die frei entschieden ihren Glauben suchen, müssen sie genau auf diesem Gebiet Erfahrungen oder zumindest Kenntnisse haben. Eine explizite Auseinandersetzung mit Fragen des Glaubens, eine qualitative Beschäftigung mit Sinnfragen und die Fähigkeit, diese ins Wort zu bringen, wird zukünftig immer wichtiger sein. Sonst gilt das, was Christian Schröder in seinem Projekt „storychurch“ als „we lost the story“ bezeichnet. Wir verlieren den Kern unseres Glauben, sind darüber nicht mehr sprachfähig, weil die gelernten und gelebten „volkskirchlichen Worte“ andere sein mussten als die Ansprache im Entscheidungschristentum. Einen Vorteil haben da diejenigen, die irgendwann mal einen Bruch in ihrer Glaubensbiografie hatten und sich dann neu angenähert haben. Diejenigen ohne Bruch sind nun zumindest aufgefordert, ihren Glauben immer wieder zu hinterfragen. Es braucht eine De- und anschließend eine Rekonstruktion des Glaubens, um sprachfähig zu werden.

Und ein letzter Aspekt: auch für die Personalauswahl müsste dies Konsequenzen haben: wie vielfältig sind wir denn personell aufgestellt im kirchlichen Dienst? Wie viel Vielfalt ist formal möglich, und wie viel Vielfalt wird dadurch verhindert, dass wir bei der Personalauswahl unbewusst solche Menschen auswählen, die mit unserer Milieubrille passend sind? Hier gibt es wohl noch einiges zu tun.

 

Foto: Jaromir Kavan, www.unsplash.com


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