Welche Rolle habe ich eigentlich?

Letztens saßen wir in unserer Intervisionsgruppe – deckungsgleich mit der Redaktionsgruppe dieses Blogs – zusammen und hatten einmal wieder das Thema „Meine Rolle als systemischer Berater“. Das Thema hat uns auch hier im Blog schon beschäftigt, aber sie kommt uns immer wieder entgegen, wenn wir unsere Aufgabe im Bistum erklären sollen.

Ein guter systemischer Berater würde deswegen jetzt fragen: Nennt die drei wichtigsten Dinge, die euch an dem Thema beschäftigen? Welche Rollen(vor)bilder habt ihr im Kopf? Wer kann euch bei der Klärung helfen – und weshalb? Was würde Erna Müller antworten? Stell dir vor, es wäre geklärt – was ist passiert?

Ich habe mir mal einfach so ein paar Gedanken gemacht.

1. Was macht den Berater zum Systemiker und wie macht ein Systemiker Beratung?

Natürlich haben wir etwas zur „Multistabilität der Rollen“ in unserer Ausbildung gelernt und auch, dass es weniger um Bezeichnungen (Begleiter, Moderator, Experte) sondern eher um Funktionen geht (Begleitung, Moderation, Expertise). Aber gibt es weitere Hinweise?

Da ist zunächst eine zweifache Unterscheidung, zur Moderation einerseits, zum Fachberater andererseits. Beide Rollen werden von Kolleginnen und Kollegen, die sich auch kirchliche Organisationsberater nennen bespielt. Ich sehe das nicht unkritisch. Es gibt in der Tat solche Aufträge. Aber alles unter „Beratung“ zu subsumieren, verwässert den Begriff. Und es steht in Gefahr, das auf der Strecke bleibt, was in der Mitte systemischer Beratung steht: die Grundhaltung eines Systemikers. Diese lautet: Die Antwort auf die Frage, die zu einer Beratungsanfrage geführt hat, die Klärung des Anliegens, die Entwicklung der notwendig gewordenen Strategie – all das liegt im System. Das System selber verfügt über alle Möglichkeiten, Ressourcen und Kompetenzen. Nur das System. Auch die besten Moderationstechniken oder das größte Fachwissen des Beraters helfen dabei nicht.

Nun sind häufige Anfragen an kirchliche Beratung die Unterstützung und Begleitung bei Organisations- oder Konzeptionsthemen. Die Versuchung ist groß, dann wie ein „Unternehmensberater“ mit Lösungen oder zumindest Vorschlägen vorzufahren. Auch ich kann mich einer Verführbarkeit dazu nicht absprechen. Aber Obacht!

Aufgabe des systemischen Beraters ist es, auf der Basis der Selbstauskunft des Systems zu Problemen oder Herausforderungen eine Lern- und Entwicklungsumgebung zu schaffen, in der innersystemisch die Kräfte für eine Reaktion des Systems freigesetzt werden. Denn ein System ist nicht fest gefügt, sondern basiert auf bewussten und unbewussten Vereinbarungen (Modellen, Mustern, Rollen, Geschichten …). Der systemische Berater ist also weder ein Architekt, der einen fertigen Plan mitbringt noch der Klempner, der die Löcher stopft. Er ist ein Artist, der es vermag, die verschiedene Systembestandteile ins Spiel zu bringen, die der Selbstbildung („Autopoiesis“) des Systems hilft.

Systemische Beratung ist also primär nicht analytisch, aber immer entwicklungsorientiert. Das gilt auch bei Konzeptanfragen, wenn auch der Kunde oftmals zunächst komisch schaut, erwartete er doch klare Antworten auf oftmals unklare Fragen – was genau der Ansatzpunkt systemischer Beratung ist. Der Systemiker schaut deshalb vor allem zu Beginn des Prozesses fasziniert weniger auf das „Was“ der Veränderung, sondern eher das „Wie“.

Der systemische Berater wird dazu seine Wahrnehmungen anbieten, denn seine Systemunabhängigkeit schafft einen freieren Blick auf das System, andererseits hat er aber auch keine Ahnung. Das System selber entscheidet (mehr oder minder bewusst), worauf es ankommt und eingeht. Der systemische Berater achtet dabei auf die Stabilität des Systems: es soll in Bewegung gebracht werden, aber nicht auseinanderfliegen. Was nicht ausschließt, dass eine vereinbarte Auflösung des Systems das Ergebnis der Beratung sein kann. In einem Team kann das eine Personalveränderung bedeuten, in einer Organisationseinheit eine Umstrukturierung.

Bei einer Konzeptentwicklung unterstützt der systemische Berater die Entdeckungen der Systemmitglieder, hilft, die inneren Bilder zu heben und besprechbar zu machen, bleibt achtsam darauf, dass an alle und alles von Relevanz gedacht ist. Dann entwickelt sich die Entscheidung für ein Konzept ganz von selber, bei vollkommener Zufriedenheit der Mitbeteiligten. In einer Großpfarrei können das ganz schön viele Mitbeteiligte sein, teilweise in Subsystemen. Das macht dann lokale Kirchenentwicklung komplex, aber nicht unmöglich. Den Beginn macht man deshalb ratsamerweise mit Führungsverantwortlichen und Multiplikatoren (ein Buchtipp dazu)

Der systemische Berater kennt für all das verschiedene Methoden, die in einem solchen Entwicklungsprozess helfen. Was für die Schaffung einer Entwicklungsumgebung relevant ist kann nämlich unterschiedlich sein: Vielleicht müssen Strukturen visualisiert, Beziehungen dargestellt, Ressourcen benannt, Konflikte gehoben, Muster unterbrochen, Bedingungen verändert, Kontexte erweitert, Vertrauen erarbeitet werden. Dafür sind verschiedene Beratungsstrategien nötig, die auch verschiedene Rollenkompetenzen benötigen. Mal gilt es zu irritieren, dann zu stabilisieren, mal zu postulieren, dann zu supervidieren, mitunter zu moderieren.

Wir sprachen in besagter Intervision auch darüber, was die Abgrenzung zum Coaching ist. Sie ist unscharf, denn die Definitionen von „systemischer Beratung“ und „Coaching“ sind nicht regulatorisch standardisiert. So kommt es auf den Kontext an. Der Coaching-Begriff kommt manchen entgegen, impliziert er doch den Rückgriff auf die vorhandenen Ressourcen und eine geführte Veränderungsentwicklung. Der Coach ist dabei anders aktiv: Er stellt weniger offene Fragen, führt gezielter in die Reflektion und gibt konkrete Tipps. Andere finden „Beratung“ seriöser und akademischer. Es gibt aber auch die Kehrseite: „Beratung“ klingt nach McKinsey, nach schöngeredeter Kürzung, nach „der Mensch ist auch nur eine Kennzahl“. Ich persönlich würde nach meinen Erfahrungen den Coaching-Begriff gerne stärken, wenngleich er ein Allerweltsbegriff bleibt.

2. Mission Impossible? Entwicklungsumgebung in Streßsituationen

Mich beschäftige im Nachgehen dieser Gedanke: Können Systeme unter Druck eigentlich in „Veränderungsmodus“ kommen? Denn wer sich auf unbekannten Terrain am Geländer festhält, entdeckt nicht das neuen Land und wie man sich darin bewegen kann.

Nun ist die gesamte Kirche gehörig unter Druck: Umweltkoppelung, Ressourcen, Organisationsstruktur – alles offene Enden. Und mehr und mehr eine Aufsichtsbehörde als Bistumsleitung, die klare Aussagen dazu erwartet, was in Zukunft nicht mehr gemacht wird. Nicht selten, weil sie selber keinen Plan haben und – durchaus ehrlich formuliert – von den lokalen Kirchenentwicklern lernen möchten. Wie kann systemische Beratung da agieren, wenn sie statt Notfallsanitäter Goldschürfer sein möchte? Eine Idee: Einen Rahmen schaffen, der innerhalb dessen Sicherheit gibt. Ein Labor einrichten, in dem etwas ausprobiert werden kann. Eine Pionierübung durchführen, die auch scheitern darf. Eine Think Tank, dessen schräge Gedanken zuende gedacht sein dürfen.

Es gibt Diözesen, die ansatzweise so agieren. Zum Beispiel das Bistum Essen, in dem Kürzungen erst 2020 beginnen sollen, oder das Bistum Osnabrück, das sich ein Jahr Auszeit gönnt. Auch die Stabsstelle Strategiebereich Pastoralentwicklung im Bistum Münster ist ein Ansatz in diese Richtung.

3. Gehobener Schwierigkeitsgrad: Inhouse-Beratung

Nun arbeiten wir nicht nur in der Kirche, sondern sind Teil der innerkirchlichen Struktur, weil wir auf irgendeine Weise Teil einer Organisationseinheit eines Bistums sind. Wir sind Teil des kirchlichen Systems mit seinen Modellen, Mustern, Rollen, Geschichten … Es gibt nicht wenige die sagen: systemische Beratung als Teil eines Systems ist nicht möglich. Dieser Verdacht lässt sich – auch in der ehrlichen Reflektion meiner Beraterpraxis – nicht von der Hand weisen.

Ich sage es mal so: Die beraterische Freiheit ist eingeschränkt. Auch wenn es von der Bistumsleitung keinen ausgesprochenen Auftrag auf ein Beratungsziel hin gibt, gibt es doch eine Erwartung, das kirchliche System durch die Beratung zu stützen. Der Berater wird auch mit der Bistumsstrategie identifiziert. Inhouse-Beratung steht deswegen immer auf der Kippe. Die Gratwanderung ist: Beratung als Systemstabilisierung. Da bekommt ein Seelsorgeteam ein Teambuilding, wo ein Personalwechsel angezeigt wäre. Oder ein Pastoralkonzept dient vor allem der Motivationserhaltung von Ehren- und Hauptamtlichen in einem eigentlich fragwürdig gewordenen Grundmuster der lokalen Gestalt von Kirche.

Kirchliche Inhouse-Beratung, die einem systemischen Anspruch gerecht wird, müsste hier ehrlicher sein als vielfach gelebt. Die Rolle als Organisationsentwickler nicht nur in, sondern auch an Kirche selbstbewusst zu besetzen, ist un(aus)geübt. Ich erlebe immer wieder, das Systembeteiligung von höheren Entscheidungsebenen nur symbolisch markiert wird anstatt die beraterische Intervention zu setzen, sie aktiv zu beteiligen und auch in ihrer Leitungsverantwortung anzurufen. In den Blick kommt, dass die Kontraktierung zwischen Leitungsebene und Beratung im Blick auf den konkreten Prozess selten besprochen und oft vorausgesetzt wird.

4. Eine Abschlussintervention

Für die Rollenstabilität als systemischer Berater in unseren Organisationsentwicklungsprozessen kam mir der Gedanke, die Gestaltung und Leitung von Beratungsterminen an das Kundensystem abzugeben, was bislang nicht die Regel ist. Mehr aus der Beobachtung heraus statt als „Verkäufer“ zu agieren, die Menschen eher emotional zu begleiten anstatt ihnen eine Entwicklungsstruktur nach der anderen vorzuschlagen – das würde die systemische Perspektive stärken ohne damit das Beratungsziel aus den Augen zu verlieren. Es würde bestärken, dass wir nicht am System schrauben, aber Werkzeug und Baustoffe bereithalten.

Was wäre wohl die Wirkung?

  • Wir müssten unserer eigenen pastoral-pädagogischen Verführbarkeit standhalten, den Menschen und Gruppen als Freund und Helfer zur Seite zu springen.
  • Wir müssten der Leitungsebene gegenüber standhalten, wenn wir z.B. eine externe Intervention empfehlen oder die Beratung niederlegen, weil sich das System durch uns (eingeschlossen: vielleicht auch wegen uns) nicht in Bewegung setzt. Berechtigterweise erwartet man durch den Einsatz von Beratung ja Bearbeitung, Klärung, Lösung.
  • Wir müssten mit uns in Kirche überein kommen, dass nicht jedes Team in der Lage sein wird, als Team zu arbeiten und nicht jede Pfarrei eine Idee für Gemeindeaufbau im 21. Jahrhundert entwickeln und/oder umsetzen kann.

Können wir solche Reflektionen ins Spiel bringen? Überzeichnen wir damit unsere Möglichkeiten?

Die Attributierung von innerkirchlicher systemischer Organisationsberatung wird zeigen, welche Rolle sie einnehmen kann und darf – und was das für mich als Berater heißt. Das ist in vielen Diözesen durchaus im Fluss und wird immer wieder neu auszuhandeln sein.

Ich bleibe wach und unterwegs und freue mich auch auf den Austausch mit unseren Leserinnen und Lesern.

 

Foto (c) Jan-Christoph Horn


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