„Amoris Laetitia“ als Markierung zeitgenössischer Kirchenentwicklung

Es ist ein wenig stiller geworden um Amoris Laetitia (AL), jenes nachsynodale Schreiben zur Ehe- und Familienpastoral aus dem Jahr 2016, die, vor allem innerkirchlich, Satz für Satz auf ihre inhaltliche Programmatik abgeklopft wurde – ob be- oder entgeistert, zunächst freudig entflammt und später in der Breite etwas nüchterner. Es wurde theologisch Sinnvolles darüber publiziert und kirchenpolitischer Wind darum gemacht. Aber darum soll es hier nicht gehen.

Schauen wir einmal auf AL als zeitgenössische Markierung in der Kirchenentwicklung. Meine These lautet: Die Art und Weise, wie das kirchliche Lehramt als oberste Repräsentanz von Kirche auf Ehe und Familie schaut, zeigt auch die Art und Weise, wie Kirche auf sich selber schaut. Und das ist für den kirchlichen Organisationsentwickler interessant, nicht wahr?

Die Kirche1 – und das ist das Neue – schaut reflexiv und kontextualisiert auf ihren Auftrag und den eigenen Beitrag für Ehe und Familie. Dieser Satz hat es in sich, also bitte noch mal lesen. Denn das ist nicht nur irgendein, es ist der Unterschied. Wer „Evangelii Gaudium“ noch für ein Strohfeuer missionaler Ekklesiologie hielt – für eine Kirche, die aus sich herausgeht – und das sich-in-die-Welt-stellen von „Laudato Si“ als weltpolitische Einmalaussage, kommt bei AL nicht umhin, anzuerkennen, dass sich nicht nur ein anderer Stil verstetigt2, sondern dass Basisprämissen im Kirchenselbstverständnis verändert werden.

Die Konsequenz sei für unseren deutschpastoralen Kontext so formuliert: Seit den 1970er Jahren ist das aus der Communioekklesiologie des Vaticanums II in den deutschen Milieukatholizismus hineinprojizierte Bild der „Pfarrfamilie“ ein inneres, handlungsleitendes Bild von Kirche. So wurde aus der postfeudalen und antimodernen Volkskirche eine Bürgerkirche – kritisch beäugt nur von eher rechten, besorgten bzw. linken, unzufriedenen Rändern. In AL begegnet nun eine Kirche, die – mit einem postmodernen Wort, vorsichtig eingesetzt – fluide daherkommt. Pastoraltheologisch kann man von einer „relationalen Ekklesiologie“ sprechen.

Nun aber die längst überfälligen Belege für meine These. Es sollen zwei Durchgänge werden: Der erste schaut nach der veränderten Grundhaltung des Lehramts und dem Organisationslernen darin. Der zweite reflektiert das Familienbild der Enzyklika und schaut, ob das auch etwas über das Selbstbild der Kirche aussagt.

Erster Durchgang: Das kirchliches Lehramt: Relational, Fluide, Differenzierend, Selbstrelativierend

Inhaltlich steigt AL gleich damit ein, dass die „Vielschichtigkeit der angesprochenen Themen“ (AL 2) benannt werden. Komplexität in der Sache wird anerkannt, Gradualität und Differenzialität werden nicht nur akzeptiert, sondern vorausgesetzt. Es gibt keine eindimensionalen Antworten, weil es keine eindimensionalen Themen sind.

Das kennt man vom Lehramt durchaus anders, wie AL 36 einräumt: „Wir (müssen) demütig und realistisch anerkennen, dass unsere Weise, die christlichen Überzeugungen zu vermitteln, und die Art, die Menschen zu behandeln, manchmal dazu beigetragen haben, das zu provozieren, was wir heute beklagen. Daher sollte unsere Reaktion eine heilsame Selbstkritik sein.“ Bisher wurde oft „… in einer Haltung der Defensive gehandelt. Wir verbrauchen die pastoralen Energien, indem wir den Angriff auf die verfallene Welt verdoppeln und wenig vorsorgende Fähigkeiten beweisen, um Wege des Glücks aufzuzeigen.“ (AL 38)

Wege des Glücks aufzeigen – darum geht es. Und so ändert sich die Blickrichtung lehramtlicher Souveränität. Sie schaut nicht länger von einem Ideal her auf die Realität, die dann nur nicht genügen, nicht gelingen, scheitern kann. Sondern umgekehrt: „Es ist erforderlich, auf die Art und Weise zu achten, in der die Menschen leben und aufgrund ihres Zustandes leiden.“ (AL 79) Und so geht es „… nicht allein darum, Normen vorzulegen, sondern Werte anzubieten und damit auf eine Sehnsucht nach Werten zu antworten.“ (AL 201) „Das öffnet einer positiven einladenden Pastoral die Tür, die eine schrittweise Vertiefung der Ansprüche des Evangeliums ermöglicht.“ (AL 38)

Solche Formulierungen atmen Freiheit und doch Verbindlichkeit, Offenheit und doch Klarheit. Aus meiner Sicht tragen sie das Potential in sich, das kirchliche (Lehr)System grundständig zu verändern, ohne deren Identität preis- oder aufzugeben. Anderen gehen solche Sätze zu weit. Und wieder andere vermissen konkrete Veränderungen mancher Position zu Ehe, Familie und Sexualität – so eine Art „Anti-Humanae-Vitae“, also eine Korrektur der als Restriktion empfunden Lehraussagen aus der „Pillenenzyklika“ von 1968.

Doch als systemischer Organisationsentwickler sehe ich die Bedeutung von AL in etwas anderem: Die Enzyklika nimmt in der Tat wenige Veränderungen in der Lehrverkündigung vor, aber sie steht insgesamt für eine neue Charakteristik, wie Themen überhaupt anzugehen sind. Und das tiefere Organisationslernen3 findet genau hier statt. Anders gesagt: Es geht nicht darum, nur andere Argumente anzuführen und daraus zu anderen Schlüssen zu kommen. Dem könnte man mit Gegenargumenten beikommen, die wieder mit Argumenten widerlegt werden wollen etc. Es geht darum, die Basisprämissen einer Organisation, das Wertegerüst, das Selbst-Verständnis zu verändern. Alles, was AL über Familie schreibt, tut es von einem anderen Selbstverständnis als Kirche her. Deswegen stehen auch andere Sachen über die Familie drin, weil aus einer anderen Betrachtungsposition sich auch der Betrachtungsgegenstand ändert. Wer andere Aussagen von Kirche über Ehe und Familie erwartet als AL sie bringt, sollte dem Papst nicht fehlenden Mut unterstellen, sondern sein eigenes Kirchenbild überprüfen. Papst Franziskus bedient jedenfalls nicht das mitteleuropäisch-akademische geforderte Kirchenbild.

Ein Spitzensatz, der für eine bewusste Veränderung von Basisprämissen und damit für Organisationslernen steht ist jener aus AL 3 (auch schon in Evangelii Gaudium 222), den Papst Franziskus bei manchen Gelegenheiten wiederholt und mit dem man sein ‚Change-Strategie’ betiteln könnte. Er lautet: „Die Zeit ist mehr wert als der Raum“. Prozess lautet die neue Stabilität. Das kirchenentwicklerische und kulturverändernde Potential dieses Satzes verdient Beachtung.

Natürlich müssen auch weiter Entscheidungen zur Wahrheit der christlichen Lehre getroffen werden. Das geht jedoch nun anders: „Nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen müssen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden.“ (AL 3) Andere Qualität für die Beurteilung von Situationen werden wichtig. Nicht mehr kirchenamtliche Position, theologische Qualifikation und rhetorische Beschlagenheit sind Grundlage, sondern ein Prozess „bis der Geist uns in die ganze Wahrheit führt.“ (AL 3) Was man als romantische Geistlichkeit abtun könnte oder als schwammiges Kirche-ist-auf-dem-Weg ist Ausdruck einer anderen Haltung. Sie wirkt für mich nicht wie eine inkrementelle Neuausrichtung, sondern wie eine Konversion mit transformatorischer Kraft.

Zweiter Durchgang: Das Familienbild von Amoris Laetitia – ein Kirchenbild?

Das „System Kirche“ ist ein Abstraktum. So wie jedes System lässt es sich nur anhand von Unterscheidungen zur Umwelt und anhand der ablaufenden Kommunikationen beobachten und beschreiben. Dabei entsteht ein (Kirchen)Bild dessen, was Kirche ist – und was nicht. Dieses Bild lässt sich illustrieren. Der Mensch als soziales Wesen bedient sich für solche Illustrierungen gerne archetypisch den sozialen Bezügen, denen er entstammt. Und so ist die Kirche schon als Gottesstaat, societas perfecta, Volk Gottes oder Pfarrfamilie beschrieben worden.

In einem lehramtlichen Dokument über Ehe und Familie ist es keine Überraschung, dass eine Vorstellung von dem zu finden ist, was Ehe und Familie sind. Doch zunächst wird aufgeräumt – der selbstkritische Ton lässt aufhorchen: Früher „… haben wir ein allzu abstraktes theologisches Ideal der Ehe vorgestellt, das fast künstlich konstruiert und weit von der konkreten Situation und den tatsächlichen Möglichkeiten der realen Familien entfernt ist. Diese übertriebene Idealisierung, vor allem, wenn wir nicht das Vertrauen auf die Gnade wachgerufen haben, hat die Ehe nicht erstrebenswerter und attraktiver gemacht, sondern das völlige Gegenteil bewirkt.“ (AL 36)

Wie charakterisiert AL die Familie? „Das Ergebnis der Überlegungen ist nicht ein Stereotyp der Idealfamilie, sondern eine herausfordernde Collage aus vielen unterschiedlichen Wirklichkeiten voller Freuden, Dramen und Träume.“ (AL 57) „Keine Familie ist eine himmlische Wirklichkeit und ein für alle Mal gestaltet, sondern sie verlangt eine fortschreitende Reifung ihrer Liebesfähigkeit.“ (AL 325) Familien sind dabei „aktive Subjekte der Familienpastoral“ (AL 200).

Das alles sagt nichts über ein Bild von Kirche. Doch in AL 202 findet sich ein hochinteressanter Übertrag. Dort wird die Pfarrei als „Familie von Familien“ (im lateinischen Original: „Paroecia, quae est familia familiarum“) beschrieben. Ist es zu forsch, all das, was über Familie gesagt wurde auf die Kirche – oder wortgetreu ihrer lokalen Gestalt, der Pfarrei – zu übertragen? Gut ignatianisch: Warum nicht?

Nun denn, zu einem solchen Kirchenbild gehören dann:

  • der Abschied von einem idealen Stereotyp, der Abschied von der „societas perfecta“,
  • die Kirche als eine Collage aus unterschiedlichen Wirklichkeiten,
  • die Kirche ist nicht ein für alle Mal gestaltet, sondern in einem stetigen Reifeprozess,
  • der Kirche geht es um aktive Subjekte.

Na klar, dieser Übertrag steht da so nicht und AL ist keine Enzyklika über die Kirche oder die Pfarrei. Aber als systemischer Organisationsberater schaue ich auf Phänomene und Spiegelungen in Systemen und komme deswegen nicht umhin, diese Wahrnehmung zu heben. Ich biete sie mal einfach an.

In der Beratung arbeite ich damit, dem zu Beratenden Unterscheidungen anzubieten und nach Unterschieden zu fragen.4 So haben manchmal kleine, irrwitzige Interventionen große Wirkungen, weil etwas deutlich wird, was längst da, aber noch nicht erfasst war. In diesem Sinne lade ich ein, den letzten Absatz von Amoris Laetitia einmal zu lesen und dabei das Wort „Familie“ durch das Wort „Kirche“ oder „Pfarrei“ oder „Gemeinde“ zu ersetzen. Am besten laut lesen.

„Alle sind wir aufgerufen, das Streben nach etwas, das über uns selbst und unsere Grenzen hinausgeht, lebendig zu erhalten, und jede Familie muss in diesem ständigen Anreiz leben. Gehen wir voran als Familien, bleiben wir unterwegs! Was uns verheißen ist, ist immer noch mehr. Verzweifeln wir nicht an unseren Begrenztheiten, doch verzichten wir ebenso wenig darauf, nach der Fülle der Liebe und der Communio zu streben, die uns verheißen ist.“ (AL 325)

Ich gebe zu: Mir gefällt, was ich da lese.


1 Diese Formulierung sei gestattet, wohl wissend, dass es „die Kirche“ nicht gibt. Aber „Der Papst“ oder „Das Lehramt“ zu schreiben, würde die Beobachtungen zu sehr auf den Verfasser reduzieren und dem dogmatischen Charakter einer Enzyklika nicht gerecht werden, weil unterbieten.

2 Der auch persönlich erkennbare Stil von Papst Franziskus – sowohl kommunikativ als auch geistlich – ist unverkennbar. Bernd Hagencord SJ hat das einmal schön herausgearbeitet. Ein lesenswertes Buch zur spirituellen Ressource einer solchen Kommunikation ist das Buch von Willi Lambert: Die Kunst der Kommunikation. Entdeckungen mit Ignatius von Loyola. Herder, Freiburg 2006. Grundsätzlich zum Führungsstil von Papst Franziskus lesenswert ist Stefan Kiechle: Grenzen überschreiten. Papst Franziskus und seine jesuitischen Wurzeln. Echter, Würzburg 2015.

3 Systemtheoretisch spricht man von Lernen 2. und 3. Ordnung – ein Lernen, dass über Anpassung und Optimierung hinausgeht. Ein kurzer Abriß dazu hier.

4 Eine solide Einführung findet sich hier.

Foto: (c) Jan-Christoph Horn


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