Heilige Corona – bitte für uns

Viren legen Systeme lahm. Und lahmgelegte Systeme sind nicht nur außergewöhnlich – weil Systeme sich heftig dagegen zu wehren wissen -, sondern als Krisenmomente auch Momente des „Re-Entry“: Wenn ein System auf sich selber trifft, kann man was beobachten. Wenn ein System mal einen Moment aus sich selber heraustritt: Wie führt es sich wieder herein?

Ich finde, die sogenannte „Corona-Zeit“ führt die Kirche zu sich selbst. Die Zeit des „Shutdowns“ ist eine institutionelle Fastenzeit. Das Erwachen daraus ein Osterereignis, das aufgrund der gemachten Erfahrungen fragen lässt, was eigentlich froh macht und Früchte trägt. Und einlädt, nach dem Auferstandenen Ausschau zu halten. Diese Zeit ist nicht einfach nur eine Episode, nach der man wieder zum Normalbetrieb übergeht. Corona macht was mit einem. Auch mit der Kirche. Mit Matthias Horx: „Ein Virus als Evolutionsbeschleuniger.“

Eine Frage der Ethik

Das birgt sofort den Verdacht, die Corona-Pandemie wäre sinnvoll. Womöglich ein Geschenk. Das ist sie nicht. Lieber keine Evolutionsbeschleunigung und dafür ein gestorbener Mensch weniger, eine wirtschaftlich gesicherte Existenz mehr, weniger hereinbrechendes soziales Ungleichgewicht.

Die Corona-Krise als evolutionäres Entwicklungsereignis für Kirche zu betrachten braucht also eine Legitimation. Diese ziehe ich aus der systemischen Perspektive.

Die Frage, ob die Corona-Krise für die Kirche eine Chance oder einfach nur still auszuhalten ist, ist demnach an und für sich sinnlos. Sie impliziert nämlich, dass diese Zeit eine Ausnahme ist. Dass die Umstände nicht normal und deswegen die Dinge vorsichtig zu betrachten sind. Doch diese Setzung ist eine Vorannahme.

Der Corona-Shutdown ist weder sinnvoll für irgendetwas, noch ist er sinnlos. Er ist einfach. Und das, was ist, lässt sich beobachten und Unterschiede zu vorgeprägten Annahmen feststellen. „Eigentlich würden wir jetzt …“ oder „Eigentlich würden wir jetzt nicht …“ Solche Unterscheidungen herauszuarbeiten, sie zu betrachten und für die Erhöhung der Selbstwirksamkeit eines Systems nutzbar zu machen ist seit jeher das Tagesgeschäft systemischer Beraterinnen und Berater.

Man kann dem systemischen Erkenntnismodell vorwerfen, kein ethisches Apriori zu kennen – Dinge und Umstände, bei denen es sich nicht geziemt, nach der Erhöhung von Wahlmöglichkeiten zu fragen.

Das wäre in der Tat berechtigt, wenn die beobachteten Auslöser bewertet werden würden. „Gut, dass Corona kam, weil dadurch …“ Doch die Gründe für beobachtbare Unterschiede werden nicht bewertet. Auch nicht die, auf die Menschen z.B. in Organisationen, stolz wären. Sie interessieren nicht besonders. Es gibt keine guten oder schlechten Unterschiede. Es gibt sie einfach. Interessant ist einzig und allein: Was fängt das System damit an? Was macht es draus?

Das ist keine ethische Perspektive, aber es ist auch keine unethische Perspektive, weil es nicht behauptet, eine zu sein. Die Ethik trägt die Beraterin und der Berater als Mensch hinein. Ich würde nie eine Waffenfabrik beraten. Aber so wie ich vertreten kann, Menschen dabei zu begleiten, Unterschiede im System zwischen dem Verhalten der früheren und jetzigen Führungskraft zu beobachten und danach zu fragen, welches Verhalten für das System wirksamer ist, ohne dabei etwas über eine der Führungskräfte als Person sagen zu wollen, so kann ich es auch mit der Corona-Pandemie und ihren beobachtbaren Wirkungen tun, ohne diese für eigene Interessen nutzbar zu machen. Das wäre in der Tat ein Frevel.

Mit der „Beobachtung der Beobachtung“ – der Frage „Wie beobachte ich?“ – liegt dafür innerhalb des systemischen Beratungskonzepts eine Erkenntnishaltung vor, dem Abdriften in die Genugtuung über Veränderungen auf Kosten anderer oder der Freude über Dies-und-das ohne Eingedenk der Kosten einen Riegel vorzuschieben. Meint: Auch der Beobachter muss sich beim Beobachten bebachten.

Die Motivation zur Beobachtung von Entwicklung in Corona-Zeiten steht immer unter einem Rechtfertigungsvorbehalt. Unter diesem Vorbehalt ist sie möglich.

Der Unterschied – die Erhöhung der Wirksamkeit

Also angenommen, Kirche entwickelt sich unter den Bedingungen der Corona-Krise erkennbarer, bezeichnenderweise, unterscheidbar und entscheidbarer.

Um Unterschiede festzustellen braucht es eine Differenz, anhand der man Unterschiede unterscheiden kann. Man stelle sich ein Seil auf dem Boden vor. Erst durch das Seil wird „vorne“ und „hinten“ kommunikabel unterscheidbar. So entstehen Systeme: durch die Bezeichnung von Unterscheidungen. Als systemischer Berater lasse ich Menschen, Gruppen, Institutionen erkunden, welche Unterscheidungen die Grundlage der Interaktionen und Kommunikationen sind, also das System bilden, auf dessen Grundlage man sagt: „So ist das bei uns.“ Ich impliziere dabei: Es könnte auch anders sein. Manchmal frage ich: Wohin würde das führen?

Als Kirchenentwickler gehe ich einen Schritt weiter. Ich stehe für bestimmte Unterscheidungen, an denen ich höhere Wirksamkeit der Kirche festmache. Diese gilt es, offenzulegen:

Für mich entwickelt sich Kirche

  • wenn es mehr Partizipation und mehr Ermächtigung gibt (ekklesiologisches Kriterium),
  • wenn es mehr Kommunikation und mehr Selbstorganisation gibt (organisationales Kriterium),
  • wenn Evangelium und Existenz stärker aufeinander bezogen sind (anthropologisch-soziales Kriterium)
  • wenn die Evangelisierung mehr Gewicht bekommt und Kirche der Kenosis Christi folgt (theologisches Kriterium).

Kirchenentwicklung ist wertegebunden. Es geht nicht einfach nur um Entwicklung. Es geht um eine bestimmte Entwicklung. Um eine andere bestimmt nicht.

“Behaltet das Gute“

… schreibt Paulus (1. Thess 5,21) – und recht hat er. Aber woran erkenne ich ein Gut auf die gerade bezeichneten Unterschiede hin?

Dazu braucht es Reflexion. Diese aber nicht als Auswertung von oder Feedback zu „anderem“ Handeln. Es geht im Sinne der Beobachtung von Unterschieden darum zu schauen

  • welche neuen Lösungen für frühere Probleme entstanden sind,
  • wo sich alte Phänomene aufgelöst haben, was auf einmal gar kein Thema mehr war, was umgekehrt auf einmal Thema war (ganz ohne Klausurtag, Arbeitskreise und Papiere),
  • worüber wir nicht traurig sind, dass es verloren gegangen ist,
  • was die drei größten qualitativen Unterschiede zum früheren „Normalbetrieb“ sind,
  • welche neuartige Normalität sich zeigt, vielleicht überraschend, von der wir vorher nur geahnt haben, dass es sie geben könnte,
  • was uns davon abgehalten hat, das, was wir vorher schon als wichtig betrachtet haben, wo wir gesagt hatten „Das gehört mal anders“ einfach zu tun,
  • was sich als Thema oder Ding aufdrängt, als zwar nicht neue, aber sich jetzt besonders zeigende Sache,
  • über welche Sache wir begeistert und angetan sind – und was dagegen spräche, einfach damit weiterzumachen,
  • welches Hindernis, welches (Denk-)Verbot auf einmal keine Rolle mehr spielt,
  • was der produktive Gewinn wäre, wenn ich wieder etwas tun würde, das ich nicht vermisst habe,
  • was sich jetzt noch verändern sollte, wenn wir aus der Zukunft auf diese Zeit zurückblicken,
  • welche Fragen wir jetzt leben sollten,
  • welche Resilienzerfahrung ich gemacht habe und welche Coping-Strategie gegriffen hat,
  • woran ich merke, dass ein neues Gut entstanden ist, die Kultur sich verändert hat,
  • welche Beziehungen besonders gefragt waren, welche auch nachgefragten neuen Beziehungsangebote geschaffen wurden, welche angeblich wichtigen Beziehungsangebote keine Rolle gespielt haben,
  • was wir verstetigen sollten, weil es nicht nur not-wendig war, sondern auch sinn-voll wurde, und was der Gewinn dabei ist,
  • wovon wir doch schon längst gedacht haben „Das braucht es!“ oder „Das müsste anders sein!“,
  • wovon wir in einem Jahr sagen werden: „Das hat damals angefangen“,
  • wie die Kraft dieser Zeit heißt,
  • welche persönliche Erinnerung an diese Zeit mich nachhaltig prägen wird,
  • wie die systemerhaltenden Dienste (Leitungsebene, Normenkontrolle) reagieren (unterstützend oder abwehrend – wann das eine, wann das andere),
  • welche Probleme der Kommunikation in der Organisation sich verschärft haben, welcher Missstand aufgefallen ist, wem wir davon unbedingt erzählten müssten und was sich dadurch verändern würde.

Diese Impulse fragen nicht nach dem „Warum?“, sondern konsequent nur nach dem Unterschied und seiner Wirkung. Hinter einer solchen Art von Beobachtung steht die Annahme, dass Entwicklung in Sprüngen stattfindet. Auf einmal ist alles anders. Wie konnte es jemals anders gewesen sein? Das kleine Kind kann laufen. Ich kann Ja sagen zu meiner Homosexualität. Die Familie feiert Hausliturgie.

Reflektieren wir unsere Unterscheidungen hin zu dem, was jetzt wichtig ist. „Zeigen wir einander das Beste in uns.“ (Frank-Walter Steinmeier)

Das Sinken der Regelkonformität erhöht die Veränderungsmöglichkeit

Die Grundbedingung für solche Sprünge ist, dass einmal etwas anders gedacht werden kann – also die Regelkonformität sinkt. Gängige erlaubte Wege für solche „verabredete“ Entwicklung z.B. in Organisationen sind Innovationsprojekte, Projektstellen oder Laborwerkstätten.

Kennzeichen einer Krise ist, dass bisherige Festlegungen neu entschieden werden müssen. Krisen führen deswegen dazu, dass die Schwelle der Intervention und Sanktion sinkt: Dann nutzt halt nicht-datenschutzkonforme IT-Tools – aber nur ausnahmsweise! Dann feiert der Priester halt alleine die Eucharistie – aber nicht, dass das zur Regel wird! In einer Hausgemeinschaft wird betend das Brot gebrochen – aber darüber reflektieren wir bitte nicht weiter!

Systemtheoretisch formuliert werden in solchen Momenten im System vorhandene Emergenzen sichtbar. Oft sind es die bereits geahnten „Sollbruchstellen“. Das, was vorher schon da war, verstärkt sich. Die Probleme werden problematischer. Die Lösungen lösender. Was funktioniert, funktioniert weiter. Was dysfunktional war, findet jetzt auch keinen anderen Weg. Es wird keine neue Relevanz geschaffen. Lose Relevanzen werden aber durchaus verstärkt.

Es reicht dabei nicht, die beachtenswerten kreativen und authentischen Angebote wie Osterboxen, Online-Bibel-Teilen etc. als den entscheidenden Entwicklungsimpuls zu sehen. Es ist nämlich nach den Mustern dahinter zu fragen. Und da sehe ich oft genug immer mehr des Gleichen: Hauptamtliche, die sich kümmern wie immer. Priester, die ihre Rolle liturgisch engführen. Engagierte, die sich selber als spirituell unmusikalisch bezeichnen. Pfarreien, deren Ahnungslosigkeit für gelingenden Kontakt zu Menschen offensichtlicher wird. Kirchenbehörden, die in der Krise sehr gut verwalten, aber dennoch keine Vision transportieren. Mitarbeitende der Caritas, die vom kirchlichen Mainstream weiterhin unbeachtet, großartige Dinge leisten. Authentisch erlebte Seelsorgerinnen und Seelsorger werden stärker abgerufen. Ja, warum denn?

Das Verhältnis zwischen schon vor Corona bedeutenden und unbedeutenden ändert sich in der Krise nicht. Die Krise bringt weder neue Probleme noch andere Lösungen hervor. Aber sie provoziert die Möglichkeit, das Seil im Raum anders zu legen. Weil man z.B. über die Linie im Raum stolpert oder weil man sich verwundert fragt, warum die Linie, über die man mal eben locker gegangen ist, gar keine Mauer war. In der Krise können neue Regeln entschieden, neue Wirklichkeiten vereinbart werden. Das verändert was. Feste Wege entstehen, wo vorher nur ein Trampelpfad war.

Wahlmöglichkeiten

Man kann Entwicklung fördern, aber nicht einkalkulieren. Sonst wäre das Zimmer unseres Sohnes aufgeräumter. Ein Entwicklungsprozess führt immer nur an die „Schwelle“. Man kann Entwicklung nicht planen, nur Wirkungen beobachten. Denn das System hat im Vollzug keinen Zugriff auf sich selbst. Und da man ein System auch nicht anhalten kann – so wie man ein Schiff auf dem Meer nicht einfach stoppen kann – bleibt nur die Möglichkeit, das System zur Selbstbeobachtung anzuleiten, auf dass es Unterscheidungen und Muster entdeckt und sich fragt: Will ich das so?

Entsprechend ist es müßig, nach den Bedingungen für dies und das zu fragen. „Warum ist dies und das …?“ – Ja, was weiß ich. Lasst uns lieber über unseren Sprung reden. Ich glaube nämlich, wir sind schon längst gesprungen. Habt ihr doch auch gemerkt, oder? Ja, genau, diese Mini-Veränderung, dieser feine Unterschied, dieser eine neue Gedanke, diese eine auf einmal ganz wichtige Kleinigkeit und relevante kleine Wichtigkeit. Persönlich, geistlich, kollegial, fachlich, strukturell. Wow! Was ihr da tut ist beeindruckend. Jetzt lasst es uns verstetigen. Nach den Bedingungen fragen, die das weiter ermöglichen. Lasst das, was ihr als störend erkannt habt, auch in Zukunft sein. Geht mutig voran. Lernt weiter. Unterstützen wir diejenigen, die Kommunikations- im Sinne von Deutungskompetenz im System haben.

Wir haben die Veränderung doch schon erlebt und erfahren. Lessons learned! Sonst hätten wir den Unterschied nicht feststellen können. Fragen wir uns nur: Was hält uns davon ab, dabei zu bleiben? Sollten wir das Gute und Starke nicht verstetigen? Lasst uns schauen, wohin uns das führt. Und die Schlüsselstellen, die uns in unserer Arbeit hindern, gezielter angehen und klären. Jetzt ist auch die Zeit, sich nicht alles gefallen zu lassen.

Lasst uns scharf benennen, wo Emergenzen zutage treten, die unserer Entwicklungsrichtung entgegen laufen. Wo Energie hineingepumpt wird, die vom Aber-Geist kommt. Wo wir Verzweiflung und Frust gespürt haben. Das alles einfach abzutun, wäre töricht. Entsprechend klar muss man sich positionieren, v.a. als Führungskraft. Denn in der Krise erhalten auch überwunden geglaubte Emergenzen / Wirklichkeiten neue Präsenz und Konformität – Willkommen zurück auf einer alten, stillgelegten Autobahn. Wie voll es hier auf einmal ist …

Die Achtsamkeit auf das, was passiert, gilt besonders dann, wenn das System wieder ins Gleichgewicht zu kommen versucht – vulgo: „hochfährt“. Dann auf die Unterscheidungen zu schauen, nachdem dies geschieht ist aufschlussreich. Konstruktionen werden deutlich und die Frage ist: Sind das die richtigen?

Die sonntägliche Kathedralliturgie soll die erste religiöse Versammlung sein, die wieder stattfindet. Ist doch richtig so. Ja? Haben denn keine religiösen Versammlungen stattgefunden? Haben sich Christinnen und Christen in ihrer Religionsfreiheit beschnitten gefühlt? Wer? Findet Kirche wieder statt, wenn Gottesdienste stattfinden? Brauchen Familien gerade wirklich eine Vorlage für einen Familiengottesdienst für Zuhause? Brauchen treue Gottesdienstbesucher wirklich eine Eucharistie auf Abstand?

“Halt an, wo läufst du hin?” (Angelus Silesius)

Bitte keine Empfängnisverhütung

Die Lösung, davon bin ich überzeugt, liegt im System. Sie ist schon da. Und wenn ich sie noch nicht sofort sehe, muss ich das System mehr lieben.

Was haben wir denn in den letzten Wochen erfahren, was haben wir erlebt, welche Wirkung im Sinne von Lebendigkeit war zu beobachten? („Lebendig“ kann auch meine Verärgerung oder Enttäuschung sein.) Wie fühlt sich all das an? Gab es in all dem womöglich einen „Entwicklungssprung“? Was müssten wir dann jetzt entscheiden – zumindest auch entscheiden?

Unterscheiden ist die schwierigere Form des Entscheidens, weil man sich selber beim Denken zusieht. In der systemischen Beratung nennt man das Lernen 2. Ordnung: Es werden nicht nur die Dinge geordnet, sondern auch gefragt, wie sie geordnet werden.

Sich dabei von vormals sinnhaften Logiken zu verabschieden fällt umso schwerer, je mehr man sich selber persönlich mit diesem Sinn identifiziert hat. Aber es wäre falsch, unsere inzwischen 14jährige Tochter weiterhin wie eine 3jährige zu behandeln, obwohl es einmal vollkommen richtig war, das zu tun. Und sie sich manchmal auch noch so verhält.

Es ist doch so: Das in der Krise sichtbar gewordene oder gar auseinander geflogene Puzzlebild kann auch anders zusammengesteckt werden. Zumindest sollten wir danach schauen.

Der richtige Zeitpunkt ist jetzt. Ich muss in der Krise auf meine Unterscheidungen und die darauf folgenden Entscheidungen schauen. Schaue ich nachher darauf, hat sich das System mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder nach den bisherigen Regeln gesetzt.

Wenn wir allenthalben von der Notwendigkeit eines anderen Kirchenbilds sprechen, müssen wir, ein Puzzlestück in der Hand, die möglichen anderen Anschlüsse sehen. Sonst verändert sich das Bild nicht und auch nicht die mit diesem Bild angetriebenen Prozesse.

„Auch diese Krise ist, unter anderem, ein Ringen des Alten mit dem Neuen, das sich weniger im Wesen der Krise zeigt und mehr in den Reaktionen und in der Perspektive auf das, was danach kommt. Das Hoffnungspotenzial liegt in den Lösungen und Antworten, die den Status quo verändern. Eine andere, bessere Zukunft scheint vielen auf einmal möglich. Aber die Hüter des Gestern sind hartnäckig.“ (Georg Diez)

Erkennen ist keine Leistung, sondern eine Motivation

Was ich beschreibe ist nicht das eindimensionale und optimistische Erkenntnismodell „Sehen – Urteilen – Handeln“, sondern das komplementäre und suchende Erkennen im „Handeln – Sehen – Urteilen“. Also ein anderer Einstieg ins Erkennen: Nicht beim „freien“ Wahrnehmen der Dinge, sondern in der Wahrnehmung der Gebundenheit des eigenen Handeln (sowie Denkens und Fühlens). Nicht: Was sehe ich und was heißt das? Sondern: Was erlebe ich an mir und was bedeutet das?

Nur eine Nuance in der Formulierung? Nein. Beim einen liegt die Veränderung noch vor mir, beim zweiten liegt die Veränderung hinter mir. Veränderung ist demnach nichts, was ich „übersehen“ und damit verpassen könnte, was Veränderungsprozesse sofort anstrengend macht, weil man dann methodisch „richtig“ arbeiten muss. Sondern Veränderung findet statt, ereignet sich, ständig, und die Frage ist: Bekomme ich das mit? Gehe ich mit? Mache ich was draus? Das ist auch eine geistliche Haltung. Der Heilige Geist ist kein Bumerang.

Kirchenentwicklung ist nichts, was jemand für die Zukunft „produzieren“ könnte und doch ist sie ein Produkt unseres gegenwärtigen Handelns.

Nicht gegen das Reptillienhirn

Lernen, Veränderung und Entwicklung geht nicht ohne Widerstand. Das macht sogar Sinn. Stabilität und Gleichgewicht sind unabdingbare Zustände für Leben und Lebendigkeit. Veränderung birgt immer ein Risiko gegen das Leben, solange die neue Unterscheidung nicht als wirksamer für das Leben (… den Auftrag einer Organisation, das Zusammenleben einer Familie, das eigene Selbstbild) beobachtet wird.

Abwehrkräfte für das „Aufschnüren“ des Pakets sind also etwas sehr Gesundes unter der Bedingung, dass die Beobachtung von Wirkungen möglich bleibt und neue Unterscheidungen möglich sind. Kommt das System aber zu sehr unter Druck und in Stress, schaltet sich der instinktive Überlebensmodus ein.

Der Mensch „weiß“ angesichts des zähnefletschenden Tigers vor sich, was zu tun ist. Auch wenn ich als Mensch es nie selbst gelernt habe, greife ich auf evolutionär vorhandenes Wissen zurück. Klar, diejenigen, die es auf einen Kampf mit dem Tiger angelegt haben, konnten ihre Gene vermutlich nicht mehr weitergeben.

Genauso greift eine Organisation auf „instinktive“ Basisannahmen, Grundmuster, Ur-Unterscheidungen zurück. Und dies mit einer Schnelligkeit und Heftigkeit, dass einem Hören und Sehen vergeht. Und seine Reputation, seine Karrierechancen oder eine Abmahnung kosten kann. Wie eine Mutter, die keifend und kratzend ihre Kinder beschützt.

Diesen Ur-Instinkten ist man aber keinesfalls ausgeliefert. Denn sie bleiben eines: Gelernt. Sie sind kein Naturgesetz. Das Verlernen ist nur sehr viel schwieriger, braucht viel mehr Geduld und hier und da auch ein wenig Klugheit.

Es könnte auch anders sein. Kommt, wir machen das.

Nach Corona?

Ich warte nicht auf eine andere Kirche nach Corona. Ich beobachte meine Kirche während Corona. Ich erlebe dabei Entwicklung trotz und wegen Corona. Ich bin dabei manchmal fasziniert und manchmal entrüstet. Also so wie immer.

Ich bin überzeugt, dass es keine Welt „nach“ Corona geben wird, die in unseren Träumen eine ganz andere oder wieder die gleiche „normale“ ist, wie vorher. Das wird es genauso wenig geben wie es eine „normale“ Welt nach AIDS, nach Auschwitz, nach dem 2. Vatikanischen Konzil etc. gibt und geben darf.

Was wichtig ist, wichtig bleibt und wichtig werden wird ist – geistlich und systemisch gesprochen – schon längst entschieden. Es liegt vor uns: zum Anpacken bereit. Ich rege an, darauf den Fokus zu setzen: Nicht säen, sondern ernten.

Dafür braucht es die Corona-Pandemie nicht. Wir reagieren nicht auf den Virus, sondern auf die Umstände, die er mit sich bringt. All das, was wir jetzt beobachten, war schon da. Die Dinge werden deutlicher, nicht zwangsläufig schlechter oder besser. Aber es sind mehr Leute wach.

Die Lösungen im Umgang mit der herausfordernden Situation bergen in sich Potential, dass wir nicht nur erleichtert, sondern auch verändert aus dieser Zeit herausgehen werden. Lasst uns die Krise als Zeit der entschiedenen Unterscheidungen verstehen. Willkommen in der neu hereingeführten Normalität.

Ein thematischer Wahrnehmungsparcours zur Reflexion auf die Corona-Krise findet sich hier.

Photo by Blake Wheeler on Unsplash


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