Englische Geschichten über das Wachstum

Vor einiger Zeit unterhielt ich mich mit meinem Diözesanbischof über seine Englandreise mit den Seminaristen. Sehr angetan erzählte Bischof Trelle von den Aufbrüchen in der anglikanischen Kirche, insbesondere von den „Fresh Expressions“ (Fresh X), die er dort kennen gelernt hatte. Mit diesem begeisterten Erzählen ist er in guter Gemeinschaft mit anderen Englandreisenden, die jenseits des Kanals neue Impulse zur Kirchenentwicklung suchen und finden. Nur, was ist dran, an diesen Geschichten über die dortige Kirchenentwicklung? Was steckt hinter den Erzählungen?

„From Anecdote to Evidence“

Genau das hat sich auch die Church of England gefragt und eine Studie beauftragt: „From Anecdote to Evidence“ nennt sie sich und ist im Jahr 2014 erschienen. Für diese Studie wurden zwischen 2011 und 2013 in zehn Diözesen der anglikanischen Kirche potenzielle „Erfolgsgeschichten“ untersucht. Seit Oktober 2016 ist diese Studie auch in deutsch verfügbar. Das Zentrum für Mission in der Region (ZMiR) der EKD hat die Studie übersetzt: „Faktencheck: Mehr als nur Geschichten

Die Church of England wollte mit dieser Studie herausfinden, in welchen Bereichen der Kirche messbares Wachstum zu finden ist. Und sie wollte auch herausfinden, woran es liegt, dass diese Bereiche wachsen. Die Ergebnisse sind bemerkenswert und können durchaus auch wichtige Impulse für die Kirchenentwicklung in Deutschland geben.

Ich möchte hier und in noch folgenden Blogartikeln ein paar Aspekte herausheben, die mir besonders relevant für die Entwicklung bei uns in Deutschland erscheinen. (Bei aller Vorsicht, die bei der Übertragung von Studienergebnissen in andere Kontexte geboten ist.)

Was ist Wachstum?

Eine Frage, deren inhaltliche Breite mir erst durch das Lesen der Studie bewusst geworden ist, ist die Frage, was eigentlich genau „Wachstum“ im Kontext der Kirchenentwicklung sein könnte. In der Dokumentation der Studie wird zu Beginn kurz skizziert, was die Church of England unter „Wachstum“ versteht. Diese Definition des Wachstumsbegriffs ist in ein „Konzept des Kirchenwachstums“ eingebettet. Das Konzept beschreibt die Mission, in der sich die Church of England sieht sowie die sich aus der Mission ergebende Verantwortung für ihr kirchliches Angebot. In diesem Kontext skizziert die Church of England drei Weisen, wie sie „in der Treue zum Evangelium“ wachsen möchte:

  • Heiligkeit („holiness“), Transformation und Engagement („commitment“) ihrer Mitglieder (Wachstum in die Tiefe) – als Einzelne und als Gemeinden
  • Wachsende Anzahl der Jünger*innen („disciples“) Jesu Christi – (Wachstum in der Zahl)
  • Die Frucht von sozialer Gerechtigkeit und einer veränderten Gesellschaft (Wachstum als Ergebnis unserer Jüngerschaft („discipleship“))1

Sie bekennt dabei gleichzeitig (in Bezug auf 1 Kor 3,5-9), dass es nicht die Kirche selber ist, die Wachstum schafft, sondern dass es Gott allein ist, der die Kirche wachsen lässt.

Strategie gewordene Haltung

Mich hat dieses klare Statement positiv überrascht. Zum einen ist es eine klare strategische Aussage: „Ja, wir wollen wachsen!“ Diese Aussage hebt sich in meinen Ohren wohltuend vom vielfach zu hörenden „Es kommt ja keiner mehr“ ab. Sie setzt in einer Zeit der schrumpfenden Kirche eine verheißende, wenn auch provokante Perspektive, wider die Mangelverwaltung.

Zum anderen ändert das Bekenntnis, dass es eben Gott ist, der die Kirche wachsen lässt, fundamental die Haltung für eine Entwicklung der Kirche: „Ja, wir wollen wachsen, aber wir können es nicht selber tun.“ Letztendlich verändert dies die Fragestellung: Zu fragen ist nicht „Was können wir tun, damit wir als Kirche wachsen?“ sondern „Wie können wir als Kirche erkennen, wo und wie Gott die Kirche wachsen lässt?“. (vgl. Artikel „Warum Kirchenwachstum“). Es ist in einem ersten Schritt eben kein „Machen“ mehr, sondern zunächst ein „Hören“ und „Erkennen“ von Gottes Willen und Gottes Tun.

Ich glaube, dass dies auch die Grundhaltung ist, die hinter dem oftmals phrasenartig klingenden Satz „Es muss aber ein geistlicher Prozess sein.“ steckt. Die drei oben genannten Dimensionen des Wachstums – Tiefe, Zahl und Ergebnis der Jüngerschaft – spannen das Handlungsfeld hierfür auf: Es geht eben nicht nur um die Anzahl oder nur um Spiritualität oder nur um soziales Tun. Es geht stets um alle drei Dimensionen, damit es ein Wachstum im Sinne des Evangeliums ist.

Wie lässt sich dieses mehrdimensionale Wachstum messen?

Nun könnte man ja auf die Idee kommen, dass man dieses Wachstum, wenn man es schon nicht selber machen kann, auch nicht selber messen muss. Dem ist nicht so, denn die Frage der Wirksamkeit der eigenen Aktivitäten bleibt auch bei geänderter Grundhaltung. Um ein Bild zu verwenden: Ein Gärtner kann seine Pflanzen auch nicht selber „wachsend machen“, sondern nur Rahmenbedingungen herstellen, die ein Wachstum seiner Pflanzen fördern. Er wird sich aber dennoch mit der Frage beschäftigen müssen, ob und wie gut Wachstum in seinen Rahmenbedingungen gelingt und welche seiner Rahmenbedingungen hilfreich oder schädlich sind.

In diesem Sinne wird sich auch die Kirche mit der Messung des Wachstums beschäftigen müssen. (Und natürlich auch mit dem Zusammenhang zwischen dem Wachstum und ihren Rahmenbedingungen in der Pastoral, aber das ist ein nächster Schritt.)

Offen ist für mich, wie denn die skizzierten Dimensionen des Wachstums gemessen werden können. Klar, das Wachstum in der Zahl lässt sich recht einfach messen. Aber wie steht es mit den anderen Dimensionen? Wie misst man Spiritualität, wie soziales Tun? Auch die Studie fokussiert sich meiner Meinung nach überwiegend auf die Messung des Wachstums in der Zahl. Zwei der drei Dimensionen bleiben so leider weitestgehend unvermessen.

Indizien statt Messkriterien

Wenn es keine messbaren Kriterien gibt, dann ist es meines Erachtens ein guter Ansatz, Indikatoren zu finden, die auf eine Zielerreichung hindeuten. Für eine Bewertung des Wachstums in die Tiefe bzw. des Wachstum als Ergebnis der Jüngerschaft wäre also zu schauen, welche Indikatoren auf das jeweilige Wachstum hinweisen könnten.

Im Bereich des sozialen Engagements könnte beispielsweise die Anzahl Kooperationspartner oder die Größe der Netzwerke in denen man als Gemeinde Partner ist, Hinweise geben. Papst Franziskus fragt: „Kennt ihr die Armen Eurer Gemeinde?“ – Die Antwort, welche die Gemeinden darauf geben können, kann auch ein Indikator für die soziale Wirksamkeit sein.

Lessons learned

Was habe ich daraus gelernt? Zunächst einmal bin ich sehr neidisch auf das Leitbild der Church of England und das klare Bekenntnis zum Wachstum. Ich würde mir so eine Klarheit auch für so manche Entwicklungsprozesse in unserer Kirche wünschen.

Dabei ist es nicht nur das ausformulierte Leitbild, was mich anspricht, sondern insbesondere die damit vermittelte wünschenswerte Haltung. Eine kollektive Haltungsänderung in einer Organisation bedeutet einen Wandel der Organisationskultur. Und das ist das, was auch in der Kirche in Deutschland ansteht (vgl. Artikel zu „Gemeinsam Kirche sein“). Natürlich wird allein aus einem geschriebenen Leitbild noch kein Kulturwandel, doch wenn es gelingt, dass ein Leitbild gemeinsam geteilt und gelebt wird, so ist ein grundlegender Schritt in Richtung Kulturwandel getan.

Für mich sind es letztlich insbesondere drei Dinge, die hiesige Entwicklungsprozesse bzgl. des Wachstums von der Church of England lernen können:

  1. Ein deutliches Bekenntnis der Verantwortlichen und der Prozessbeteiligten zum Wachstum.

Für die Verantwortlichen der Studie ist die „bewusste Entscheidung, dem Wachstum die Priorität zu geben“ eine der notwendigen Zutaten, um Wachstum zu realisieren. Es mag sich in Zeiten einer arg schrumpfenden Kirche vermessen anhören, zu sagen „Ja, wir wollen wachsen.“ Aber dahinter liegt eine Haltung, ja ein Gottesbekenntnis: Gott lässt seine Kirche wachsen. Auch heute. Auch hier.

  1. Eine klare Definition, was unter „Wachstum“ zu verstehen ist, bzw. in welchen Dimensionen die Kirche wächst.

Wachstum im Sinne des Evangeliums hat mehrere Dimensionen, die es zu identifizieren und in den Prozessen zu berücksichtigen gilt. Für die Church of England sind es Tiefe, Zahl und Ergebnis der Jüngerschaft. Sind dies auch unsere Dimensionen? Wie können wir unsere Entwicklungsprozesse gestalten, dass sie ein solches mehrdimensionales Wachstum ermöglichen?

  1. Die Notwendigkeit, das mehrdimensionale Wachstum quantitativ und qualitativ erkennbar zu machen.

Auch wenn es Gott ist, der die Kirche wachsen lässt, so sind wir nicht davon entbunden, unsere Wirksamkeit zu reflektieren. Entwicklungsprozesse müssen in der Lage sein, das gottgewirkte Wachstum zu erkennen, um entsprechende Rückschlüsse auf das eigene Handeln ziehen zu können. Was sind unsere Messkriterien? Welche Indikatoren deuten bei uns auf Wachstum hin?

 


(Zum Teil 2 des Artikels über die Studie „From Anecdote to Evidence“ geht es >> hier entlang <<)


  1. http://www.churchgrowthresearch.org.uk/concept_church_growth, eigene Übersetzung ↩︎

Foto: Jeremy Bishop on Unsplash


Beitrag veröffentlicht

in

von