Was soll aus der Kirche werden? – „Gemeinsam Kirche sein“ mal strategisch betrachtet

Mitte 2015 ist das Wort der deutschen Bischöfe „Gemeinsam Kirche sein“ erschienen. Der dort skizzierte Ansatz hat das Potential ein „Game Changer“ in der Kirchenentwicklung zu werden. Wie ich das Dokument aus Sicht des strategischen Managements einordne und wie es jetzt weitergehen müsste, das schreibe ich in diesem Artikel.

Pastoral? Strategisch!

Sich „Gemeinsam Kirche sein1 mal aus der Perspektive des strategischen Managements anzuschauen, mag auf den ersten Blick ein wenig skurril anmuten. Allein der Titel klingt doch schon eher „pastoral“ als „strategisch“.

Das strategische Management schaut auf die langfristige Ausrichtung einer Organisation. Und genau diese Perspektive ist auch im Wort der deutschen Bischöfe zu finden. Das Dokument gibt Auskunft darüber, wo die Bischöfe Kirche als Organisation im Wandel sehen und wie sie sich die weitere Kirchenentwicklung vorstellen.

Womit wir auch schon bei einem der bemerkenswerten Punkte des Dokumentes wären: Es ist ein Konsenspapier aller deutschen Bischöfe zur Kirchenentwicklung. Bisher gab es, in unterschiedlichen Ausprägungen, nur Zukunftspapiere aus den einzelnen Bistümern. Nun liegt zum ersten Mal eine konsensuale Richtungsangabe zur Zukunft der Kirche aller deutschen Bischöfe vor.

Der Inhalt des Dokumentes ist dabei nicht neu. Er bündelt vielmehr die Ergebnisse bisheriger Überlegungen und Prozesse. Neu ist hingegen die „bischöfliche Zusammenfassung“ und die Aufnahme in die Reihe „Die deutschen Bischöfe“. Dadurch bekommt der Ansatz ein deutliches Gewicht für den Wandel der Kirche.

Wenn die Leistung der Organisation sinkt…

Doch zurück zum strategischen Management: Eine Organisation hat i.d.R. einen primären Zweck oder eine Mission, die sie zu erfüllen sucht. Die Aufgabe der Leitung ist es, die Organisation so aufzustellen, dass sie diesen Zweck erfüllen kann. Wenn nun die Leistung sinkt und die Organisation ihrem Zweck nicht oder nur unzureichend nachkommen kann, so stehen der Führung drei aufeinander bezogene Handlungsebenen zur Verfügung, um gegenzusteuern: 2

  1. Umsetzung optimieren: In einem ersten Schritt kann die Organisation versuchen, dass was sie planmäßig tun soll, besser zu tun. Sie optimiert die Umsetzung der gegenwärtigen Strategie. („Die Dinge richtig tun“)
  2. Strategieentwicklung: Wenn es nicht mehr hilft, die geplante Arbeit „besser“ zu machen, dann kann die Organisation ihre Strategie ändern. Gesucht werden dann neue Wege zum Ziel oder gar neue Ziele, um dem Zweck der Organisation nachzukommen. Ein Unternehmen würde vielleicht neue Geschäftsfelder erschließen oder neue Produkte auf den Markt bringen. („Die richtigen Dinge tun“)
  3. Kulturwandel: Wenn es nicht mehr hilft allein das Was und das Wie zu ändern, so geht es an das Warum und Wozu. Der dritte und weitreichendste Schritt ist der Kulturwandel. Es geht um gemeinsame Sichtweisen und das gemeinsame Grundverständnis der Organisation. In diesem Schritt gilt es bestehende Paradigmen aufzugeben und neue anzunehmen. Geänderte Grundannahmen der Organisation können dann neue Perspektiven ermöglichen.

Was "Gemeinsam Kirche sein" über den Wandel sagt

Die deutschen Bischöfe reden von einem «Mentalitätswechsel». Sie skizzieren ein neues Bild von Kirche: Kirche soll sich nicht mehr verstehen als «Volkskirche», die ihre Gläubigen an den Kirchorten versorgt. Kirche soll sich verstehen als «Kirche des Volkes Gottes», die in ihrer Gesamtheit, also alle Getauften, als Verkünder des Evangeliums in der Welt aktiv ist.

An vielen Stellen liest sich „Gemeinsam Kirche sein“ wie ein wortgewordener Paradigmenwechsel. Aus organisationaler Sicht ist dies eine Änderung der Organisationskultur, denn wer die gemeinsam geteilten Paradigmen einer Organisation ändern will, der muss ihre Kultur ändern. Die deutschen Bischöfen haben also für den gewünschten Wandel die dritte Handlungsebene hinzugenommen:

Kirchenentwicklung ist Kulturwandel geworden

Der angestrebte Wandel der Kirche soll mehr sein als nur ein rein strategischer Wandel. Es soll um mehr gehen, als „nur“ um neue Ziele, um mehr als „nur“ um Strukturen. Es geht um ein grundlegend neues Verständnis der Organisation Kirche von sich selbst und von ihrem Umfeld.

Wenn dies so kommt („Gemeinsam Kirche sein“ versteht sich zunächst „nur“ als Impulspapier), dann wäre es eine weitreichende strategische Entscheidung der deutschen Bischöfe. Ein Kulturwandel würde das ermöglichen, was ich in meinem Artikel über die eingetretenen Pfade der Kultur beschrieben habe: Durch die Änderung der Paradigmen der Organisation wird eine neue Wahrnehmung der Situation möglich und neue Handlungsoptionen können gedacht werden.

Die deutschen Bischöfe haben ihrer Kirche eine neue Brille verordnet, bzw. „angeboten“.

Was nun passieren müsste

Ob aus dem Impulspapier auch ein tatsächlicher Kulturwandel wird, muss sich nun zeigen. Das Potential dazu wäre – von der Tiefe des skizzierten Wandels her – da. In der Verantwortung sind die Bischöfe selber, jeder für sein Bistum. Die Bistümer und die Pfarreien vor Ort sind die verantwortlichen Ebenen, die diesen Wandel (durch-)führen müssen.

Doch was müsste nun passieren? Und: Woran würde man erkennen, dass dieser Wandel tatsächlich angegangen wird? Hier ein paar Aspekte, die mir wichtig erscheinen:

Konsequenz 1: Eine Bewertung des Ansatzes ist notwendig

Vor einem solch fundamentalen Wandel ist es mehr als angebracht, sich zunächst klar zu machen, ob dieser Kulturwandel überhaupt erfolgversprechend ist. Kann er das leisten, was von ihm erwartet wird? Hilfreich können hier die Kriterien zur Bewertung einer Strategie von Prof. Gerry Johnson sein: 3

  1. Tauglichkeit: Hilft die geplante Lösung, um den zentralen Herausforderungen gerecht zu werden?
  2. Akzeptabilität:: Ist der Kulturwandel überhaupt für die Verantwortlichen und die Interessengruppen akzeptabel? (Laien, Priester, Pfarrer, Gremien, Hauptamtliche, …)
  3. Machbarkeit: Haben wir überhaupt die Ressourcen zur Umsetzung der neuen Kultur? (z.B. personellen Fähigkeiten)

Durch eine solche Bewertung werden die „Stolpersteine“ bewusst, an denen der Kulturwandel scheitern könnte. Diese Punkte können dann gesondert in den Blick genommen werden und die geplante Lösung angepasst werden. Auch hilft die Bewertung den Verantwortlichen, eine eindeutige Entscheidung für oder gegen diesen Kulturwandel zu treffen. Diese Klarheit in der Führung des Wandels wird in der Umsetzung notwendig sein!

Konsequenz 2: Keine Zukunftsprozesse mehr ohne Kulturwandel

Simple, aber folgenreich: Wenn dieser Kulturwandel wirklich durchgeführt werden soll, dann müssten jegliche Zukunftsprozesse in der Kirche eigentlich Kulturwandelprozesse werden. Jedes Bistum, jede Pfarrei müsste dann schauen, dass sie nicht nur an Visionen, Rollen und Strukturen arbeiten, sondern auch an den dahinterliegenden Werten, Haltungen und Denkmustern:

  • Welche Kultur, welche gemeinsamen Kirchenbilder, Werte und Annahmen, etc. prägen uns eigentlich?
  • Wie und wo manifestiert sich diese Kultur? (Strukturen, Rituale, Rollen, Beziehungen, Handlungen, Verhalten, …)
  • Was bedeutet für uns die von „Gemeinsam Kirche sein“ skizzierte Kultur?
  • Welche Aspekte unserer Kultur wollen wir beibehalten und welche ändern? Und wie?

Konsequenz 3: Es braucht eine eigene Strategie für den Wandel

Kulturwandel ist ein mittel- bis langfristiges Unterfangen. Es braucht eine eigene Strategie für diesen Wandel, um über die Länge der Zeit und der vermutlich zahlreichen Ungleichzeitigkeiten nicht die Richtung zu verlieren.

Ein Kulturwandel ist mit Widerstand und Verharren im Alten verbunden, weil er an den gemeinsam geteilten Grundprinzipien, am unausgesprochenen Common sense der Gemeinschaft rüttelt: Das was mir in der Gemeinschaft Sicherheit gibt, meine verinnerlichte Kultur, ein Teil meiner Identität, das soll ich ändern? Es geht hier um die verinnerlichten Bilder eines jeden Einzelnen.

Kulturwandel geschieht somit nicht am grünen Tisch, sondern in den Köpfen der Gläubigen, Laien wie Kleriker. Ohne eine stringente Strategie, wie dieser Wandel erreicht werden soll, besteht die Gefahr, doch in den eingetretenen Pfaden der alten Kultur zu bleiben. Die Gestaltung von Übergängen und die Etablierung von Lernsituationen wird hier eine entscheidende Rolle spielen müssen.

Konsequenz 4: Der Kulturwandel muss sich in der Gesamtstrategie niederschlagen

Kultur ist nicht etwas, das losgelöst in einer Organisation existiert. Sie zeigt sich in jedem Element der Organisation, seien es die definierten Rollen, die gesetzten Zielen oder die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden. Kultur manifestiert sich in dem was die Organisation tut und wie sie es tut. Für eine erfolgreiche Implementierung muss ein Kulturwandel also auf die Ebenen der Strategie und der Umsetzung heruntergebrochen werden.

Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Allein für neue Rolle der pastoralen Mitarbeiter als „Charismenförderer“ wäre im Detail (u.a.) zu klären:

  • Wie geht „Charismenförderung“ konkret? (Projekte in Gruppen? Individuelle Begleitung? Gründung christlicher Initiativen? …)
  • Was müssen die pastoralen Mitarbeiter dafür können? (Projektcoaching? Spirituelle Begleitung? Persönlichkeitsentwicklung? …)
  • Welchen Anteil ihrer Arbeitszeit sollen die Mitarbeiter in die Charismenförderung investieren?
  • Wie wird dieses Zeitbudget geschaffen? Was kann in der Arbeit der Mitarbeiter dafür wegfallen?
  • Fehlen dem Bistum oder den Pfarreien ggf. noch strategisch wichtige Fähigkeiten für die Charismenförderung?
  • Sind alle notwendigen Fähigkeiten immer in einer Pfarrei zugegen oder gibt es z.B. Spezialisten im Dekanat?

Durch die Klärung dieser und weiterer Fragen entstehen aus dem Kulturaspekt der „Charismenförderung“ auf strategischer und operativer Ebene u.a.

  • neue Konzepte zum Personaleinsatz,
  • neue Fortbildungen,
  • geänderte Ausbildungsordnungen,
  • geänderte Stellenbeschreibungen,
  • neue Beauftragungen der Mitarbeiter.

Gretchenfrage

Viel zu tun, oder? Ich denke es ist gut, sich jetzt wie o.g. noch mal die Karten zu legen: Lohnt sich das? Ist das hilfreich? Wollen wir das?

Eine Kollegin brachte mich in dem Zusammenhang auf eine Gretchenfrage, die ich hier mal in angepasster Form wiedergebe:

Lieber Herr Bischof, wenn ich Ihnen jetzt eine Sack voller Priester auf den Tisch stelle, aus dem immer wenn Sie es brauchen ein Priester herausspringt, würden Sie dann diesen Kulturwandel noch machen?

Wenn ja, sollten wir bei „Gemeinsam Kirche sein“ weiterdenken!



  1. „Gemeinsam Kirche sein“. Wort der deutschen Bischöfe zur Erneuerung der Pastoral / hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. – Bonn 2015. – 57 S. – (Die deutschen Bischöfe ; 100) ↩︎
  2. Vgl. Johnson, G., Scholes, K. und Whittington, R. (2011) Strategisches Management. Eine Einführung. (9. Auflage). München. Pearson Studium. S. 252 ↩︎
  3. Vgl. ebd. S. 456 ff. ↩︎

Foto: © Michael Bonert


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