Auf den eingetretenen Pfaden der Organisationskultur

Auf eingetretenen Pfaden läuft es sich gut. Man kennt sie, sie sind meist bequem und viele Menschen scheinen ja über diese Wege zum Ziel gekommen zu sein. Die Kultur einer Organisation ist wie ein Netz aus solchen eingetreten Pfaden. Angeregt durch den Artikel „Das Fehlen von Visionen“ von Christian Hennecke schreibe ich hier über die Wahrnehmungsgrenzen von Organisationen.

Warum ist neues Sehen für Organisationen so schwer?

In seiner Auseinandersetzung mit dem Beitrag „Kurskorrektur?!“ von Pfarrer Thomas Frings beschäftigt sich Christian Hennecke mit dem Fehlen von Visionen in der Kirche. Er schreibt:

Es geht in der Tat um eine neue Vision, um das Sehen. Und es geht um die Deutung dieser Entwicklung, die zu einer gänzlich anderen Konfiguration kirchlichen Lebens führen wird. Führen wird? Schon geführt hat. Wer mit den Maßstäben des Vergangenen misst, wird in der Gegenwart nur den Mangel entdecken können.

Entsprechend deutet er die gegenwärtige Situation der Kirche:

Ich würde behaupten, dass die Krise der Kirche heute – und besonders ihrer strukturfixierten Dimension – darin besteht, sich nicht auf eine solche Art des Sehens einzulassen und damit ohne Vision zu verkümmern.

Es ist eine Erfahrung, die ich auch in Kirche mache: Das Vergangene ist der Maßstab und prägt die Wahrnehmung der Gegenwart. Doch warum fällt es einer Organisation eigentlich so schwer, neue Dinge zu sehen?

Kultur als Brille einer Organisation

Eine Antwort liegt in der Kultur der Organisation. Dort finden sich die geteilten Annahmen und Werte einer Organisation. Sie prägen die Denkmuster, die alle unsere Wahrnehmungen einordnen. Die Kultur ist quasi die Brille, durch die die Organisation sich selbst und ihr Umfeld wahrnimmt1. So wie ein farbiges Glas, durch das man auf seine Umgebung schaut, alles in der einen Farbe erscheinen lässt, so „färbt“ auch die eigene Kultur die Wahrnehmung ein.

Wenn ich in die Praxis schaue, so ist bspw. nicht selten in der Kultur einer Pfarrei verankert, dass an einem Kirchort auch stets ein Priester zu sein hat. Die kollektive Erfahrung der Vergangenheit als Volkskirche wirkt hier in der Kultur nach. Ist es, wie heute, dass bspw. ein Priester mehrere Kirchorte betreut, so wird dies als Defizit empfunden.

Die Erfahrung der Vergangenheit ist Kultur geworden und bestimmt so die heutige Wahrnehmung.

Nicht wenige Ansätze zur Problemlösung in Kirche drehen sich daher mehr um die Frage, wie man denn trotz sinkender Priester- und Gläubigenzahlen den jahrelang als gut erfahrenen Betrieb der Pfarrei aufrecht erhalten kann. Die in der Kultur der Kirche verankerten Paradigmen prägen die Lösungen in Kirche. Ein vermeintlich bewährtes Konzept soll auch unter geänderten Rahmenbedingungen noch funktionieren. Das Kirche auch anders gehen könnte ist schlicht ein Denkmuster außerhalb der vorherrschenden Kultur.

Eingetretene Pfade werden nicht verlassen

Mit der eingeschränkten Wahrnehmung einer Organisation von sich selbst und von ihrem Umfeld engt sich logischerweise auch ihr Denken und Handeln ein. Manche möglichen Entwicklungsschritte der Organisation können von ihr schlicht nicht gedacht werden, weil sie außerhalb der Kultur liegen. Es entstehen sogenannte Pfadabhängigkeiten: In der Vergangenheit eingetretene und somit in der Kultur verankerte Pfade können nur schwerlich verlassen werden.2

Wenn sich das Umfeld schneller entwickelt als man selbst

Die eingeschränkte Wahrnehmung einer Organisation führt dazu, dass die Organisation auf Veränderungen in ihrem Umfeld nicht oder nur unzureichend reagieren kann. Der eingetretene Pfad ist oftmals stärker als eine adäquate Antwort auf kontextuelle Änderungen. Und so kommt es, dass die Organisation mühsam Stufe um Stufe die Treppe der Entwicklung hochklettert, während das Umfeld der Organisation in gleicher Zeit mal eben drei Stufen auf einmal hochsprintet.

Prof. Gerry Johnson, Professor emeritus der Lancaster University Management School, beschreibt dieses Phänomen als „strategische Drift“3: Aufgrund historischer und kultureller Einflüsse entwickelt sich die Strategie einer Organisation nur in kleinen, inkrementellen Schritten. Die Organisation reagiert so zwar auf Veränderungen des Umfeldes, kommt aber letztendlich der Entwicklung nicht hinterher. Organisation und Umfeld entfernen sich mehr und mehr, bis sie nicht mehr in Kontakt sind. Die Folge: Ein grundlegender Wandel muss her oder die Organisation stirbt.

Kulturwandel kann not-wendig sein

Ein grundlegender Wandel, der an den Wahrnehmungsmechanismen der Organisation rüttelt, rüttelt auch gleichzeitig an den Paradigmen der Organisation, denn sie bestimmen ihre Wahrnehmung.

Die Paradigmen sind das gemeinsame (und oft nicht hinterfragte) Grundverständnis einer Organisation. Paradigmen sind oftmals so selbstverständlich im Leben der Organisation, dass sie von ihren Mitgliedern oft gar nicht bewusst wahrgenommen und so auch nur schwerlich beschrieben werden können.4

Die in der Kultur verankerten Paradigmen haben aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit das Potential, das (strategische) Handeln der Organisation so stark einzuschränken, dass die Änderung der Kultur ein notwendiger Schritt in der Organisationsentwicklung sein kann.

Vor der „neuen Wahrnehmung“ steht das Bewusstwerden des gefärbten Glases

Wenn nun Christian Hennecke, wie oben zitiert, schreibt, dass es um ein neues Sehen geht, aus dem eine neue Art kirchlichen Lebens erwächst, dann geht es eben um den hier skizzierten Kulturwandel in Kirche. Es geht um ein Ablegen des gefärbten Glases und um ein Annehmen eines anders gefärbten Glases.

Wer ein solches „neues Wahrnehmen“ der Organisation Kirche ermöglichen möchte, muss sich mit den Paradigmen (bzw. Episteme, systemisch gesprochen) auseinandersetzen. Es gilt wahrzunehmen, welche (unausgesprochenen) Kernannahmen in Kirche existieren. Welches sind die prägenden Wahrnehmungs- und Denkmuster eines Bistums, einer Pfarrei, einer kirchlichen Einrichtung, …?

Bevor ich eine Brille ablegen kann, muss mir bewusst sein, welche Brille ich überhaupt trage.



  1. Vgl. E. Schein, Organisational Culture and Leadership, 2. Auflage, Fossey-Bass, 1997, S.6. Zitiert in Johnson, G., Scholes, K. und Whittington, R. (2011) Strategisches Management. Eine Einführung. (9. Auflage). München. Pearson Studium. S. 243 ↩︎
  2. Vgl. Johnson, G., Scholes, K. und Whittington, R. (2011) Strategisches Management. Eine Einführung. (9. Auflage). München. Pearson Studium. S. 237 ff. ↩︎
  3. Vgl. ebd. S.230 ↩︎
  4. Vgl. ebd. S. 250 f. ↩︎

(Foto: © Michael Bonert)


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