Kirchenentwicklung als Kulturwandel – eine Einordnung aus Sicht der OE

Hinweis: Dieser Beitrag erscheint in einer überarbeiteten und aktualisierten Form, zudem in ökumenischer Kooperation mit Thomas Schlegel von der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, im Tagungsband des Symposiums „Kirche neu denken“, Veröffentlichung Anfang 2023.

Die Stadtplaner haben sich ganz sicher etwas dabei gedacht: Man überquert die Wiese auf dem befestigten Weg und kommt so bei Wind und Wetter durch den Park, ohne dass der Rasen Schaden nimmt. Bitteschön. Doch anscheinend passte das nicht zu den Bedürfnissen der Menschen und ihren Gewohnheiten (… wie man auf dem Titelbild dieses Beitrags sieht). Die haben sich nämlich einen eigenen Weg geschaffen, der quer zum geplanten Weg geht.

Das zeigt im wahrsten Sinne, dass sich Menschen ihre Umgebung schaffen, in der man aufgrund praktischem Nutzen („Der neue Weg ist ein Umweg“), einer kontextabhängigen Haltung („Wo ich herlaufe, bestimme ich immer noch selber“) und einer eingeübten Praxis („Hier war immer schon ein Weg“) den Trampelpfad geht. Pflasterung, Hinweis- oder gar Verbotsschilder hin oder her.

Das nennt man Kultur.

Dieser Text – mehr Grundsatzartikel als Blogbeitrag nach meiner eigenen Lesereise durch die Literatur1 – widmet sich der Rede von Kirchenentwicklung als Kulturwandel. Er bietet dem Leser* einen Verstehenshintergrund über kulturelle Prozesse in Organisationen und einen Zugang zum Umgang damit. Benannt wird auch, was schlichtweg nichts bringt. Der Preis für die Gründlichkeit der Ausarbeitung ist die Länge – man kann den Text aber auch von Abschnitt zu Abschnitt lesen und die Lese- als Denkpause nutzen.

Teil 1


Kult um die Kultur

Die verfasste Kirche steht vor großen institutionellen Herausforderungen. Die Debatten um die inhaltliche Ausrichtung in der Sakramenten- oder Amtstheologie sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Die Problemlagen gehen tiefer: Sprache, Riten, Rollen, Leitung, Kirchengemeinschaft, gesellschaftliche Bedeutung, Mitarbeitergewinnung, Organisation der Verwaltung. Mit Blick auf das Organisationsmodell von Kirche geht es um das Verlernen des mittelalterlich-feudalen Selbstbildes und eines behördlich-regulierenden Leitbilds. Hinzu kommen die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte. Kirche als Institution positioniert sich in einem veränderten Umfeld. Alexander Garth warnt deshalb: „Wer mit den Methoden von gestern die Gemeinde von morgen bauen will, übersieht die Wandlung, die unsere Gesellschaft durchläuft.“

Manche2 sagen: Es ist ein Kulturwandel nötig. Sie meinen damit, dass die Veränderungen umgreifend, umfassend und komplex zusammenhängend sind, über die Organisationsfrage hinausgehen und wirklich, ganz bestimmt, unbedingt und mit einem gewissen Druck in der Nachhaltigkeit anzugehen sind. Passiert da nichts, wird es nur schwer weiter gehen. Es geht nicht nur eine bestimmte Weise, Kirche zu sein, zu Ende, die man – mit steigender Tonalität in der Stimme – innovieren, reformieren, transformieren müsste. Ohne Wandel geht es überhaupt nicht weiter.

Kulturwandel – die zarteste Versuchung seit es Veränderungsdruck gibt

Ich stimme dem zu und empfinde doch ein Unbehagen. Denn diese Rede birgt Versuchungen in sich, zu schnell, leichtfertig und aktionistisch vom Kulturwandel zu reden. Zwar stimmt es, was Valentin Dessoy formuliert: „Kirchenentwicklung ist aus sozial- und organisationswissenschaftlicher Perspektive ein grundlegender Kulturwandel.“ Aber er beschreibt damit die Wirkung, nicht die Methode. Denn er schreibt auch: „Das Neue ist nicht deduktiv ableitbar, kann nicht linear angegangen werden.“

Ich bin also vorsichtig: Nicht jede Kirchenentwicklung ist Kulturwandel. Und nicht jedes „Projekt“ zum Kulturwandel initiiert einen solchen. Natürlich, auch eine Anpassung oder Optimierung ist immer ein wichtiger Impuls – die Frage danach, ob man die Dinge richtig macht ist immer eine gute Frage. Aber ein Kulturwandel impliziert eine Veränderung der Basisannahmen.

Diese Seite des Change – ganz bestimmt bestimmte Dinge zu tun und bestimmte Dinge ganz bestimmt nicht mehr zu tun – ist herausfordernd und nicht nur ein Programmwort. Kulturwandel ist eben nicht das nächste Projekt, sondern etwas in bestimmter Weise weiter-, tiefer-, nähergehendes.

Nachdem ich im Folgenden die von mir wahrgenommenen „Versuchungen“ etwas näher beleuchte, braucht es ein Nachdenken über das, was „Kultur“ bedeutet und Markierungen darüber, was die Beeinflussung von Kultur angeht (Teil 2). Daraus ergeben sich organisationsentwicklerische Hinweise (Teil 3).

Die erste Versuchung: Kultur als Container

Stefan Kühl spricht angesichts eines inflationären Gebrauchs des Wortes „Kultur“ in der Organisationsentwicklung von einem „terminologischen Staubsauger“. In einem anderen Bild kann man sagen, dass die Rede vom Kulturwandel ein Containerwort ist – Container = groß, passt viel rein, manchmal ist er leer. Mit „Kulturwandel“ wird die überbordene Aufgabe von Veränderungen zwar schön etikettiert („Kultur“ ist ja auch ein milieugeprägtes Wort und bei der Rede vom „Wandel“ klingt die „Wandlung“ mit all ihrer theologisch-geistlichen Bedeutungsschwere mit), aber gleichzeitig die Ahnungslosigkeit darüber verklausuliert, was zu tun ist und die Handlungsohnmacht, wie etwas zu tun ist.

Und ist es wirklich ein Kulturwandel, wenn über Gemeindeleitung durch freiwillig Engagierte, bistumsweite pastorale Prioritäten wie „Jugend“ oder „Nähe“ oder eine „neue“ Kultur der Beziehung gesprochen wird? Sind das nicht eher klassische (zweifelsohne sinnvolle) Entwicklungsprozesse, die aber in der bisherigen Kultur und ihrer Organisationslogik verharren? Und was wäre stattdessen ein echter Kulturwandel? Angenommen, das Kirchensteuersystem würde aufgelöst …

Um im Bild zu bleiben: Es gibt richtig gute und theologisch überreife Ideen, was in den zukünftigen Kultur-Container rein sollte: Partizipation, Teamgeist, geistliche Formung, Evaluation von Prozessen, Ressourcenklarheit. Die Verlockungen eines solchen Aufbruchs sprechen auch mich an, das Zielfoto hat visionäre Elemente, der kirchenhistorische Zeitpunkt für solche Entwicklungswege scheint günstig.

Leicht gerät jedoch bei aller (Vor-)Freude auf eine solche Kultur der zunächst mal zu initiierende Wandel aus dem Blick – Wandel(n) als Bewegung, als Unterwegs-Sein zwischen Startpunkt und Zielort. Auf diesem Weg gibt es keine Erleichterung durch ein Containerfrachtschiff, das für uns die Last durch die Stürme trägt, während wir im Düsenjet der Sonne entgegenfliegen. Kulturwandel ist operativ ein Organisations- und inhaltlich ein Aushandlungsprozess. Haben wir damit angefangen?

Die zweite Versuchung: Kultur als Funktionshebel

Ich sehe weitergehend die Gefahr, dass der eingesetzte Kulturbegriff unterkomplex und geradezu trivial verwendet wird und deshalb das Wahre, was mit dem Wort Kulturwandel im Zusammenhang mit Kirchen- besser: kirchlicher Organisationsentwicklung angespielt wird, keine Tragweite entfalten kann. Kulturwandel ist keine Antwort auf überschießende Systemrationalität. Kultur ist die Ursache.

Kultur ist eben nicht auf die Ebene von Strategie, Maßnahme oder Führungsverhalten zu simplifizieren. Denn so einfach ist das nicht. Kultur ist zwar überall und in allem sichtbar, aber sie ist keine Variable in einem System, die gestaltbar, veränderbar oder plump austauschbar wäre.

Damit das klar ist: Kultur kann man nicht wandeln. Aber durch Wandel ändert sich die Kultur.

Es ist wie beim Klima. Der Klimawandel passiert und wir sind seinen Wirkungen ausgeliefert. Und doch sind die Klimaveränderungen maßgeblich durch Menschen produziert, haben konkrete Ursachen. Umgekehrt würden sofortige Verhaltensänderungen hier und da die weiteren Auswirkungen abschwächen – aber was passiert ist, ist passiert und Veränderungen ergeben sich erst auf längere Sicht.

Wie beim Klima, so ist es auch bei der Kultur: Während die Kultur unmittelbar durchschlägt, funktioniert es umgekehrt nicht: Eine andere Realität (andere Vorgänge, Rollen, Personen) ändert nicht unmittelbar die Kultur. Eine einmal wirkende Kultur hat einen langen Nachhall. Akzeptieren und durchhalten!

In der Rede vom „Kulturwandel“ wird also etwas vorgetäuscht, was gar nicht möglich ist. Richtigerweise ist das Sprechen über den „Kulturwandel“ eine epistemologische Deskription, also so etwas wie eine Wirkungserzählung: „Angenommen, es wäre in Zukunft so-und-so – was würden wir heute anders machen?“ Kulturwandel beginnt solcherart im Hier-und-Jetzt, dass sie bei der Jetzt-Kultur ansetzt, aber eine gewünschte andere Wirklichkeit nicht mit den Mitteln der heutigen Kultur gestaltet – durch alle Widerstände hindurch, trotz aller Irritation, auch einmal im Gegenstromprinzip.

Noch einmal der Klimawandel: Wer nicht mehr mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegt und viel seltener Fleisch ist, wird heute schräg angeschaut. Unsere Gesellschaftskultur würde uns Flugreisen und unbegrenzten Fleischkonsum ja erlauben. Aber die resultierende geringere CO2-Belastung ist Bedingung der Möglichkeit, den Klimawandel zumindest abzumildern.

Kulturwandel „konkret“ in Kirche heißt nicht: Das jetzt Mögliche tun, sondern: An den Bedingungen der Möglichkeit arbeiten, etwas anderes tun zu können. Arbeit an der Kultur bedeutet nicht die Schaffung neuer Möglichkeiten, sondern die Beobachtung dessen, wie neue Möglichkeiten geschaffen werden.

Also: Voran!

Die dritte Versuchung: Zuwenig Jetzt-Kultur im Blick

Der Wandel muss dabei seinen Ausgangspunkt, sein Starthäuschen, kennen. Sind wir hier gründlich genug? Nicht, dass wir zwar auf guten Wegen, aber vom falschen Ausgangspunkt loslaufen. Wo kämen wir denn da hin?

Ich möchte sensibilisieren für die Achtsamkeit auf das, was jenseits der „Schauseite“ die Institution Kirche heute kulturell prägt. Jeder Kulturwandel beginnt bei der Frage, ob wir auf der kulturellen Ebene – den Trampelpfaden der Organisation – genug davon verstanden, wie eine Organisation tickt. Deswegen wird mancher Visions- und Leitbildprozess folgenlos bleiben. Nicht, weil nicht intensiv, partizipativ, mit viel Herzblut und konkreten Handlungsideen auf eine wünschenswerte Zukunft geschaut wurde, sondern weil dabei zu wenig auf die faktisch existierende Kultur geschaut, geschweige denn irgendwelche Ansatzpunkte für die Veränderung dieser Kultur identifiziert und angegangen wurden. Veränderung gelingt nicht durch Schönreden oder Ausblenden. Hoffentlich wird dadurch nichts schlimmer.

Schauen wir kirchenintern auch auf uns selber als Kulturträger und unsere eigenen Handlungsmuster. Seien wir ehrlich in dem, was uns selber schon in der heutigen Kultur nicht gelingt. Was wäre allein dann schon verändert? Und verkennen wir nicht, dass wir den ersten Schritt in eine zukünftige Gestalt der Kirche nicht mit denen gestalten, die wir gerne dabeihätten, sondern mit denen, die gerade da sind. Ich muss diese Menschen mitnehmen, kulturell prägen, nicht auf externe Verheißungsträger warten. Wenngleich Gott uns diese regelmäßig vorbeischickt. Schon gemerkt? Wenngleich wir in Personaleinstellung und -einsatz mächtige Instrumente für auch kulturelle Prägungen von Organisationseinheiten in der Hand haben. Schon gewußt? Und wenngleich klar ist, dass manche Menschen einer neuen Kulturprägung nicht folgen werden und aussteigen. Bereit dazu?

– Nach dieser Eröffnung des Feldes geht es nun darum, in bester systemischer Manier ein paar Unterscheidungen herbeizuführen. Man kann sich an diesem Thema die Zähne ausbeißen. Oder schärfen.

Teil 2


Kultur – eine Annäherung

Martin Schleske schreibt in seinem Buch „Der Klang“:

„Unsere Natur ist uns gegeben, wir können nichts dafür. Doch wir formen uns durch unsere Kultur, und dafür können wir viel. Sie lässt uns fragen, welches die inneren Regeln sind, denen unser Leben gehorchen soll. Was wählen wir, worauf hören wir?“

Er spricht damit die grundlegende Unterscheidung zwischen Natur und Kultur an. Natur – das sind unsere biologischen Instinkte und genetischen Triebe. Kultur – das sind Dinge, die der Mensch gestaltend hervorbringt. Kultur ist ein nicht-biologischer, aber evolutionärer Antreiber für uns Menschen. Kultur bildet die Ergänzung und Überformung der allein auf sich gestellt rein instinktiven Natur. Jeder, der versucht, seinen Kindern Tischkultur beizubringen, weiß, was ich meine.

Wenn ich hier über Kultur schreibe, meine ich dabei die Kultur in Organisationszusammenhängen. Die Abgrenzung zum Kulturbegriff der Philosophie, Kunst und Ästhetik ergibt sich aus diesem Kontext: Organisationskultur findet in funktionalen sozialen Systemen statt.

Eine Kultur entsteht immer, wenn Menschen interagieren. Kultur entwickelt sich automatisch durch Interaktion. Durch den Austausch von Ansichten, Werten und Überzeugungen, durch gemeinsame Erfahrungen und erlebte Situationen entstehen Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten, die charakteristisch werden. Nicht lösbar ist dabei die Frage, warum bestimmte Erfahrungen einen prägenden Einfluss haben, andere wiederum nicht.

Kultur ist „die kollektive Programmierung des Geistes“ (Geert Hofstede). Kultur ist nicht, was man tut, sondern, wie man etwas sieht. Unterhalten Sie sich mal mit einem Asiaten darüber, ob man beim Suppe essen schlürft (Europäer: Nein, Asiat: Ja) oder ob man bei Tisch die Nase putzen darf (Europäer: Ja, Asiat: Nein). Kultur ist nicht das Bischofswort zur Fastenzeit. Kultur ist die Missgunst demgegenüber.

Kultur hat also nicht nur dekorative Effekte. Kultur ist Atmosphäre, Haltung, sind bestimmte Entscheidungen, die so normal sind, dass sie gar nicht als solche wahrgenommen sind. Kultur ist wie Leben bei uns am besten geht. Kultur ist das Gefühl, wie die Dinge sein sollten. Männer schlagen ihre Frauen nicht. Kinder sollen nicht arbeiten müssen. Wir trennen unseren Müll. Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich im Herbst Erdbeeren in Plastikfolie kaufe.

Kultur ist im Anschluss an den Organisationswissenschaftler Klaus Doppler die Gesamtheit der Normen und Werte, Einstellungen und Haltungen, nach denen gehandelt, kommuniziert, entschieden und kooperiert wird. Kultur ist aber nicht identisch mit Normen und Werten. Kultur ist das, was die Dinge normiert und bewertet. Kultur sind nicht die sichtbaren, kollektiven Werte, sondern die unsichtbaren Grundannahmen. Kultur ist das „Hintergrundrauschen“ hinter jeder Interaktion. Kultur bestimmt die „grammatikalischen Regeln“, mit denen in einem System kommuniziert wird. Kultur ist der Deutungsrahmen für Verhalten, denn Kultur setzt die als selbstverständlich vorausgesetzten Spielregeln.

Kultur ist, mit Worten von Edgar H. Schein, tief, breit und stabil. Sie ist tief verankert (= sichtbar nur durch Artefakte), breit legitimiert (= propagierte Werte) und oft unbewusst (= unausgesprochene Annahmen).

Kultur funktioniert, obwohl man nichts von ihr bemerkt. Sie muss nicht analysiert werden, denn sie ist das Alltäglichste, was es gibt – es gibt sie immer und sie wirkt immer. Sie ist keine Variable neben anderen, sondern durchdringt alle Bereiche.

Kultur selber ist unsichtbar, hat aber Medien: Helden, Geschichten, Riten, Rituale, Symbole, Sprache, Rollen, Architektur, Gestaltung.

Kultur ist neben körperlicher Kraft und rationalem Verstand die dritte Gestaltungsmacht des Menschen. Sie ist der Schmierstoff zwischen den Dingen und sie sendet Lenkungsimpulse aus. Nicht ohne Grund spricht man von dem Prozess, bei dem jemand den vorgeprägten Regel-, Rollen- und Wertekanon in sich aufnimmt, von „Inkulturation“. Kultur ist eine Leistung – kein planbares Ergebnis, aber ein gestaltbares Ereignis.

Eine sehr vorteilhafte Funktion der Kultur ist ihre Stabilität. Sie stillt das Orientierungsbedürfnis („So läuft das hier“). Die Kultur spannt den Rahmen dessen, was Recht ist. Das hält das System aufrecht. Störungen und Abweichungen werden aufmerksam registriert und schlagen sich z.B. in der Rechtssprechung nieder. Gesetze verankern Kultur. Will man den Anker woandershin werfen, muss man das bedenken. Kultureller Wandel von Kirche ohne Veränderung von Gesetzen bleibt pastoralpädagogischer Sprech. Anders gesagt: Kirchenentwicklung findet auch im kirchlichen Amtsblatt statt.

Als ein Aufmerker für kulturelle Organisationsentwicklung heißt das, dass ein Kultur-Wandel nicht nur postuliert, sondern an konkreten Veränderungen erlebbar gemacht werden muss. Denn eigentlich ist jedes Handeln von Personen ein Beitrag zur Erhaltung und Stabilisierung des durch sie gebildeten Systems. Das, was nicht im Rahmen der prägenden Kultur gedeckt ist, wirkt fremd, bizarr, falsch, bisweilen bedrohlich. Kaffee im Kirchenraum nach dem Gottesdienst? Keine Jahrgangskatechese in der Erstkommunionvorbereitung? Der Bischof im Elektroauto? „Das ist falsch.“

Ja?

Man kann Kultur nicht mechanistisch verändern. Man kann Kultur aber beeindrucken – und womöglich beeinflusst sie das.

Na los, beeindrucken wir die Kultur.

Kulturelle Prägungen von Organisationen

Die Kultur einer Organisation – auch die einer Organisation wie es die verfasste Gestalt der Kirche ist – ist also keineswegs ein theoretisches Konstrukt. Kultur ist auch in Organisationen das, was die Dinge um einen herum bestimmt. Sie ist das Unterleben der Organisation. Sie macht, wie ich bestimmte Dinge in organisationalen Zusammenhängen sehe und wie ich mich zu bestimmten Dingen (nicht) verhalte. Kultur ist im Bild gesprochen das Nervensystem einer Organisation.

Organisationen entstehen nicht zufällig. Menschen organisieren sich zu einem Zweck. In jedem sozialen Organismus können daher die Grundelemente Zweck, Menschen und Struktur identifiziert werden. Die Kultur kommt als viertes Element hinzu, wo immer Menschen interagieren. Die Kultur ist auch in Organisationen das, was immer schon da ist und doch nicht dem Zufall überlassen bleibt.Die Wirkmächtigkeit einer Kultur in Unternehmen ist dabei durch ein Bonmot aus der Organisationsentwicklung gut beschrieben: „Culture eats strategy for breakfast“ – die Kultur ist stärker als jede Strategie. Wer, wenn nicht wir Kirchenmenschen, könnten davon berichten.

Auch die verfasste Kirche ist also nicht „Kulturfrei“. Auch in der Kirche gilt, dass die vorherrschende Kultur einen starken Einfluss auf den Charakter und die Stimmung in der Organisation hat: Die Gottesdienstgemeinde betet die Doxologie des Hochgebetes mit. Ein pastoraler Mitarbeiter erhält ein dienstliches Smartphone. Die örtliche Verbandsgruppe lässt mitteilen, dass sie die Anwesenheit eines pastoralen Hauptberuflichen bei der Adventsfeier nicht erwartet. – Das sind Dinge, die man festlegen und regeln kann. Wie das geschieht, ist im letzten nicht eine Frage behördlicher Diktion, sondern kultureller Durchdringung. Diese ist mächtiger als jede formale Vereinbarung. Kultur ist a priori, direkt, konkret und unmittelbar.

Gerade in der kirchlichen Tradition ist das Wissen um die Bedeutung der Kultur präsent. Die beachtliche Anpassungsfähigkeit der verfassten Kirche an eine Kultur ist an der Kirchengeschichte ablesbar und sollte dazu motivieren, dass es auch ein weiteres Mal gelingen wird. Das ist auch eine Frage der geistlichen Kultur.

Es gibt dabei per se keine schlechten Kulturmerkmale. Kultur ist keine Ontologie, kein Wert-an-sich. Kultur wirkt absolut, aber ist nie absolut zu setzen. Es gilt stets herauszufinden, welche Kultur den (theologischen) Zielen einer Organisation im Kontext seiner Umgebung dient und welche ein Hindernis ist. Nur wer ein Verständnis davon hat, kann die Stellen identifizieren, an denen Steuerungsimpulse gesetzt werden müssen, um einen Wandel zu injizieren, der dem (theologisch legitimierten) Auftrag von Kirche entspricht. Von daher ist die Rede vom Kulturwandel nicht nur ein Wort, sondern ein Auftrag: zum Organisationswandel.

Kultur systemtheoretisch

Mit Hilfe der Systemtheorie soll das, was Kultur in Organisationen ist, noch einmal formuliert sein. Stefan Kühl liefert hierzu wertvolle Hinweise. Er definiert Organisationskultur als „Verhaltenserwartungen an Organisationsmitglieder, über die nicht offiziell entschieden wurde, sondern die sich langsam durch Wiederholungen und Imitationen eingeschlichen haben.“

Was bedeutet das? In jeder Organisation gibt es formale Entscheidungen (durch bekannte Regeln und Programme) und informale Entscheidungen (durch Beziehungen und Machteinfluss) aber auch unentscheidbare Entscheidungsprämissen, die aber doch gelten. Nicht alles in einer Organisation wird geregelt sein können, aber alles – auch das scheinbar ungeregelte – hat eine Wirkung. Beispiel: In einer Bürogemeinschaft sitzen die Fachmitarbeiter in größeren Büros, die Sekretärinnen in kleineren (= formale Entscheidung). Immer die gleiche Sekretärin kocht den Frühstückskaffee (= informale Entscheidung). Aber warum stehen die Türen zu den Büros offen (= unentscheidbare Entscheidungsprämisse)?

Unentscheidbare Entscheidungen lassen sich niemals endgültig erklären. Warum man sich bei uns zur Begrüßung die Hände reicht und woanders die Nase stupst? Klar, man wird das kulturwissenschaftlich herleiten können. Aber wer kann dann Punkt benennen, an dem irgendwer gesagt hat: „Jetzt machen wir das so!“

Aber es passiert. Man merkt es erst später. Denn unentscheidbare Entscheidungsprämissen wirken nicht auf die Zukunft hin, sondern aus der Vergangenheit her. Jan Assmann spricht vom kulturellen Gedächtnis als „die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen“.

Die unentscheidbaren Entscheidungsprämissen haben aus systemischer Sicht eine elementare Funktion, nämlich Abstimmungsprozesse zu beschleunigen. Christina Grubendorfer schreibt: „Entscheidbarkeit heißt: es ist zu verhindern, dass sich eine bestimmte Struktur im Unternehmen etabliert. Unentscheidbarkeit heißt: es ist nicht zu verhindern, dass sie sich etabliert.“ Über die formalen und informellen Stellschrauben ist es häufig nur begrenzt möglich, eine Organisation in die Lage zu versetzen, umfängliche Entscheidungen zu treffen. Wer schon einmal am Entscheidungsprozess einer Stellenbesetzung beteiligt war, weiß, was das meint.

Die Gestaltungsillusion von Kultur

Ein kultureller Wandel, der dem gerecht wird, was bisher über Kultur geschrieben wurde, erschöpft sich demnach nicht darin, die unentschiedenen Dinge nun zu entscheiden, einfach ein paar Dinge anders zu sehen als bisher oder ein paar Rahmenbedingungen im Vergleich zu vorher zu verändern. Solche Interventionen mit dem Ziel einer Veränderung können organisationsentwicklerisch (und womöglich auch theologisch) richtig sein. Und da Kultur nie etwas fertig ist, sondern immer geschieht, kann die Organisationskultur auch dadurch beeinflusst werden. Aber dann hört es auf. Die Tiefenstruktur einer Kultur entzieht sich der diagnostischen Beschreibung und damit jeder Form von Therapie. Kultur entwickelt sich nicht mechanistisch durch neue Bestuhlungen oder Formulare, nicht durch eine neue Weise der Rede übereinander, auch nicht durch neue Leitfiguren allein. All dies sind freilich hilfreiche Äußerlichkeiten.

Stefan Kühl ist amüsiert über die rein handwerklichen Versuche einer Kulturveränderung: „In einem gut geplanten und flexibel angelegten Prozess, so der Tenor, seien die Beteiligten in der Lage, die Kultur gezielt zu verändern. Ein solches Kulturverständnis dient in der Regel einer Idealisierung der Zielkultur.“ Und Edgar H. Schein schreibt: „Die Kultur eines Unternehmens lässt sich nur eingeschränkt vergrundordnen. Eine starke Unternehmenskultur kann nicht als etwas verbindlich Vorgegebenes entfaltet werden, vielmehr nur als Summe der gemeinsamen Haltungen und Grundannahmen der Mitarbeitenden entstehen.“

Organisationssysteme entstehen wie alle Systeme durch Kommunikationen, die das System von einer kontingenten Umwelt unterscheiden. Systemveränderung bedeutet also veränderte Kommunikationen. Und kultureller Wandel in einem System bedeutet veränderte Kommunikation über das System.

Das klingt nach wenig. Doch andere Kommunikation über das System verändert alles. Alles Weitere ergibt sich.

Teil 3


Wie kann ich auf die prägende Kultur einwirken?

Die unentscheidbaren Entscheidungsprämissen lassen sich nicht durch die Verkündigung neuer organisationskultureller Werte verändern, denn dann wären sie ja entschieden. Winfried Berner schreibt deswegen: „Die bewusste und planmäßige Veränderung einer Unternehmenskultur ist in gewisser Weise die Königsdisziplin des Change Managements: Eine der anspruchsvollsten Herausforderungen – und zugleich eine der tückischsten, weil sie sich so verführerisch leicht starten lässt, es aber ausgesprochen schwierig ist, dem guten Anfang eine ebenso gute Fortsetzung folgen zu lassen. Die Misserfolgsquote bei ‚Kulturprojekten’ dürfte weitaus höher sein als bei fast jeder anderen Art von Veränderungsvorhaben: Trotz aller Anstrengung und kreativen Ansätze wird nur sehr selten das eigentliche Ziel erreicht, nämlich eine dauerhafte Veränderung der Einstellung und Verhaltensweisen der Adressaten.“

Von Simon Sagmeister entlehne ich dieses Bild: „Die bewusste Gestaltung von Unternehmenskultur funktioniert ähnlich, wie eine Landschaft kultiviert wird. Jeder Garten wird sich entwickeln, egal ob der Gärtner eingreift oder nicht. Denn jeder Garten hat ein Eigenleben. Der Landschaftsarchitekt kann seinen Pflanzen kein Wachstum vorschreiben – aber er kann es durch sein Eingreifen ermöglichen beziehungsweise begünstigen und die Entwicklung in seinem Garten bewusst steuern, indem er beispielsweise für ausreichend Licht und Wasser sorgt, einzelne Bereiche trennt oder zusammenführt und den Austausch zwischen ihnen beeinflusst. Er kann auch an der ein oder anderen Stelle nachschneiden oder Unkraut entfernen. Ihm ist dabei bewusst, dass sich die einzelnen Elemente gegenseitig beeinflussen, etwa wenn die Schatten der hohen Pflanzen den niedrigeren die Sonne nehmen. Auch Einflüsse von außen steuern die Entwicklung, denn Wind und Wetter bilden eine dynamische Umwelt. Manchmal tragen sie auch neue Pflanzen in den Garten, die Einfluss auf alles Bestehende haben. Der Gärtner gestaltet also einen äußeren Rahmen mit Wegeinfassungen und was dann dort wächst kann der Gärtner sich wünschen und das seine dafür tun. Er kann es beeinflussen. Machen kann er es nicht.“

Angesichts dessen, was wir gerne alles an unserer kirchlichen Organisation und Kultur verändern wollen würden (egal aus welcher Distinktion heraus) und diversen Studientagen, Podien und Auftaktveranstaltungen holt einen das gut in die Realität. Die Veränderung der Organisationskultur ist an Indikatoren messbar, nicht durch Kriterien machbar. Kulturveränderung ist kein Programm, weil sich Kultur nicht programmieren lässt. Aber wenn Kultur immer geschieht, geschieht auch kulturelle Veränderung immer. Kulturwandel ist – ein Wandel. Statt gegen eine Kultur für eine andere Kultur zu arbeiten heißt das dann: auf Augenhöhe mit der vorherrschenden Kultur agieren und Unterschiede machen. Immer wieder. Immer wieder. Immer wieder. Der Wandel der Kultur braucht zunächst eine Kultur des Wandels.

Christina Grubendorfer nutzt das schöne Bild des „Kulturwandel über Bande spielen“, um die Möglichkeit der Veränderung kultureller Muster zu beschreiben. Systemisch formuliert geht es um das bewusste Einsetzen von Interventionen, die eine Wechselwirkung in Gang bringen.

Während ich einfache Reaktionsschemata voraussehen kann (z.B. das Betätigen eines Schalters), ist das in komplexen sozialen Systemen nicht einfach möglich – und Organisationssysteme sind äußerst komplexe Systeme. Was z.B. in der einen Pfarrei funktioniert, kann in der Nachbarpfarrei in die Hose gehen. Oder die eine Pfarrei reagiert auf eine unpassende Pfarrerbesetzung mit besonders viel Eigenenergie, eine andere mit Lethargie. Wenn der Bischof eine weitreichende Leitungsentscheidung in Sachen Kirchenentwicklung setzt, weiß er auch nicht, wie diese ankommt, denn das hängt von vielen Faktoren ab. Er mag damit auch einen Kulturwandel erzielen wollen – ob das so verstanden wird oder schlimmstenfalls als das Gegenteil, hat er nicht in der Hand.

Sollte er es deswegen lassen?

Organisationsentwicklung als Kulturleistung

Die Organisationsentwicklung stellt eine Multiperspektivität zur Verfügung: Veränderungsimpulse setzen gleichzeitig und wechselwirkend bei Zweck, Menschen, Strukturen, Kultur an. Ich stelle mir das Zueinander dieser Felder wie dieses Spiel vor, bei dem man mit einem Gummiband zwischen den Fingern verschiedene Muster bilden kann. Wenn die Finger beweglich sind. Wer in Kirche über Kulturwandel redet und Veränderungen in der Formalstruktur der Organisation ausschließt, kann gleich damit aufhören. Und wer nicht bereit ist, Personalentwicklung und -einsatz – inklusive Fluktuation – als kulturbildende Maßnahme zu sehen, sollte sich später nicht beklagen.

Veränderungsprozesse auf der „Kulturebene“ einer Organisation finden nicht auf der Schauseite der Organisation („Seht her, so ist unsere Kirche“) und auf der formalen Strukturebene („So organisieren wir uns“), sondern im Nervenzentrum der Organisation statt. Menschen haben ein feines Gespür für soetwas. Wenn man also denn Pfarrer bei seinem bürgerlichen Namen nennt, Päpste, Generalvikare und Bischöfe nach einigen Dienstjahren die Stelle räumen – was bei Leitungsposten in vielen Ordensgemeinschaften zum guten Stil, ähm, zur Kultur gehört – oder man anfängt, Hunde zu essen – was in anderen Kulturen ja durchaus üblich ist – könnte es sein, dass man einen Nerv der prägenden Kultur trifft. Dann weiter. Obwohl Kultur die unentscheidbaren Entscheidungen betrifft, kann man sich aktiv und entschieden dazu verhalten. Auch das Kultursystem einer Organisation hat eine Selbstveränderungskompetenz.

Kulturellen Wandel anstupsen

Bei meiner Lesereise in das Themenfeld „Kulturwandel“ sind mir verschiedene konkrete Zugänge begegnet, die ich hier einbringe. Bitte nicht mit einer Baumaschine verwechseln und nicht als Presslufthammer einsetzen. Aber als Aufmerker, als Indizienträger, mehr als Haltung denn als Verhalten mag das einen Einstieg in kulturelle Achtsamkeit im eigenen Bezugssystem bieten. Noch einmal sei unterstrichen: Man kann Kultur nicht machen. Aber beeindrucken.

Eins: Kulturanalyse

Ich muss mehr von der Kultur verstehen, die jetzt wirkt, anstatt eifrig Szenarien zu entwickeln von einer Kultur, die ich gerne hätte. Wichtiger ist es, die Unterschiede zu benennen, worin sich eine neue Kultur von der bisherigen unterscheiden solle.Mehr vermutete Stimmigkeit, weniger formulierte Werteprosa.

Pointiert gesagt: Kirche braucht keinen Kulturwandel, sondern Kultursensibilität. Es gilt, die vorherrschenden, pathetischen und pathologischen Muster zu beobachten, diese auch anzuerkennen als Lösung für Probleme früherer Tage. Und vor allem die Menschen – die Kulturträger – nicht bloßzustellen als Anhänger einer vergangenen Kultur. Gerade in idealistisch überhöhten Organisationen wie der Kirche, wo jede und jeder aus einer Werthaltung heraus seinen Dienst tut, stößt das die Menschen vor den Kopf.

Grundlegend benennt Klaus Doppler fünf Felder, in denen die prägende Kultur erkennbar wird: Kommunikation, Verhalten, Strukturen, Beziehungen, Evaluation:

  • Evaluation und Qualitätsmanagement sind Lesehilfen für die Organisationskultur.
  • Selbstreflexion und externes Feedback sind für die Struktur- und Kommunikationsdimension wichtige Komponenten um herauszufinden, welche Kultur herrscht, weil Kultur an sich als ein unbewusst funktionierendes Orientierungs- und Regelsystem ja nicht greifbar ist. Was sind die vorgeschriebenen Kommunikationswege, die offiziellen Programme und die formalisierten Erwartungen bezüglich des Personals? Wie wirken sie sich auf die alltäglichen Arbeitsprozesse aus?
  • Schlüsselpersonen der Organisation, Beteiligte und Betroffene eines Transformationsprozesses müssen für die Beziehungs- und Verhaltensdimension gemeinsam im Dialog den Geist der Organisation und der beabsichtigten Entwicklungs- und Veränderungsvorhaben verstehen.

Auch ein Blick in die Geschichte ist wichtig, denn die (Organisations-)Geschichte ist ein mächtiger Träger von Kultur – die Jetzt-Kultur ist ein Spiegel der Vergangenheit. Heißt auch: Möchte ich in Zukunft eine andere Kultur, muss ich in der Vergangenheit der Zukunft etwas verändern. Also jetzt. Und durchhalten. Kulturwandel wird am Ende vollzogen worden sein.

Kulturpessimismus ist dabei angesichts all der aufgedeckten kulturellen „Schwächen“ in der jetzigen Situation keine sinnvolle Haltung. Ich muss die Kultur zwar nicht lieben, in der ich stehe. Aber ich darf nicht gegen sie arbeiten. Das nimmt sie einem Übel.

Zwei: Veränderte Normalität

Die Normierung zukünftiger kultureller Ziele ist nicht einfach durch ein schönes Leitbild abgefrühstückt. Das noch Nicht-Erreichte muss das neue Normale werden. Aber wann ist etwas „normal“?

Normalität wird organisationstheoretisch definiert als „stabile Position plus plausible Evidenz“. Das heißt: Es braucht Stabilität in dem, was die Organisation lebt und es braucht die Einsicht der Mitbeteiligten („Change Owner“). Deren Verhalten setzt sich wiederum aus den beiden Komponenten Persönlichkeit und Umweltfaktoren zusammen. Womit eine Art Kreislauf beschrieben ist: Lasse entsprechend disponierte Mitbeteiligte immer wieder mit bestimmten Dingen Erfahrungen machen (z.B. Veränderungen formaler Kommunikationswege, Ablaufprozesse und Zielvorgaben), auch wenn sie zunächst neu und ungewohnt sind. Verstärkung („Machen Sie mehr davon!“ – der Personalchef stellt sich hinter seinen leitenden Pfarrer, der von einem Gemeindemitglied theologisch unterterminiert diffamiert worden ist) bzw. Veränderung („Lassen Sie das!“ – der Pfarrer unterschreibt nicht mehr die Sterningerausweise, sondern überlässt das der delegierten Leitung der Aktion in seiner Pfarrei) sind geradezu überprüfbare Routinen dafür.

Mit der Zeit werden Menschen diese Dinge in ihr normales „Mind Set“ übernehmen. Für einen gelingenden kulturellen Wandel wichtig ist dabei, dass dies dann auch die informalen Normierungen einschließt. Denn wie viele Organisationen haben sich formal gewandelt, aber informal nicht. Das früher dunkle und muffige Pfarrbüro nun mit Glastür und Empfangstresen umgebaut verändert überhaupt nichts, wenn sich die Haltung der Mitarbeitenden den Besucher*innen gegenüber nicht auch „wandelt“.

Paul Hüster zeigt am Instrument der „Kulturdialoge“, wie Fotoscouting (Woran wird unsere Jetzt-Kultur sichtbar?) und Storytelling (Erzähl mir die Geschichte einer anderen Kultur) hier sehr konkrete Erlebnisse schaffen.5

Kultur ist stark, aber lebendig.

Drei: Wandel von Kommunikationen

Für den Systemtheoretiker Fritz B. Simon besteht Kultur aus den tiefliegenden Kommunikationen einer Organisation. Demnach ist Kulturwandel ein Wandel von Kommunikationen.Das Verständnis von „Kommunikation“ ist dabei ein anderes als das alltagsgebräuchliche Kommunikationsmodell von Sender-Inhalt-Empfänger. Kommunikation beschreibt systemtheoretisch die Koordination von Akteuren und Aktionen. Es sind die Artefakte in einem System.

Für einen Wandel dieser Kommunikationen braucht es dann mehr als andere Wörter, neue Modelle oder gute Projekte. Es braucht eine Ernsthaftigkeit, Gradlinigkeit, Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit, mit der Unterschiede zwischen „Früher“ und „Jetzt“ getroffen und Veränderungen angegangen, nachgefasst und – nicht zuletzt – erzählt werden.

Kommunikation ist der Schmierstoff für Veränderung und kultureller Wandel ist immer zuerst sozialer Wandel, dann Organisationswandel.

Theologisch gesprochen: Lasst uns über den Sinn von Kirche reden.

Vier: Kultureller Wandel braucht führende Kräfte – Mentoren für Kulturwandel

Die Disposition der handelnden Personen, v.a. der Führungskräfte, setzt einen für kirchliche Systeme ungewohnten, für kulturelle Organisationsentwicklung aber nicht hintergehbaren Aufmerker.

Ein Bischof geht gebeugt und müde dreinschauend vor der Bischofskirche her. Der Gruppenleiter schnauzt Kinder an. Dem Kirchenvorstand ist es schnurz, ob die Kirchenangestellten eine Schulung zur Prävention von sexualisierter Gewalt erhalten. Der Pfarrer predigt sonntags von Liebe und Barmherzigkeit, geht aber jedesmal beschäftigt an der alten, kränkelnden, einsamen Oma in der Kirchenbank vorbei. Was für ein kultureller Wandel ist mit diesen Menschen – allesamt Führungskräfte der Kirche – erreichbar?

Aber es sind diese Menschen, an denen die vorherrschende Kultur ablesbar und an deren Haltung und Verhalten andere kulturelle Ziele der Organisation deutbar sind. Sie sind die ersten, die den Ausweichbewegungen zurück zur Normalität begegnen müssen.

Sind Führungskräfte und Leitungspersonen zwar auch selber von einer Kultur bestimmt und dieser zum Teil heftig ausgeliefert, so haben sie doch einen Auftrag für kulturelle Achtsamkeit. Sie sind Agenten von und Mentoren für Kulturwandel.Sie haben Zugriff darauf, Unterschiede herzustellen, die die prägenden kulturellen Muster beeindrucken und irritieren: Unterschiede in Kommunikationen, Artefakten, Basisannahmen in Stil, Werten und Ausrichtung – mit Vorgaben, an die sie sich als erstes selber halten, mit Zielen, für die sie auch sich selbst zu begeistern wissen.

Kultur entsteht durch Kultur. Und Kulturträger sind auch Kulturpräger.

Das birgt auch einen Impuls für die Personalentwicklung: Die Kultur, die ein Neuankömmling in eine Organisation mitbringt, hat es gegen die geballte Macht an etablierten Gedanken zwar schwer, aber undurchdringlich ist sie nicht. Kultur überträgt sich nicht eindimensional. Menschen können gerade deshalb in eine bestimmte Position, an eine bestimmte Stelle, einen bestimmten Ort gebracht werden, um ihre Gedanken und Ideen zu verbreiten. Wir machen in Kirche viel zu wenig geplant, begleitet und evaluiert davon Gebrauch.8

Fünf: Wer Entwicklung will, muss lernen können

Eine Organisation entwickelt sich nicht fortwährend-linear, sondern in Sprüngen. Wir kennen das: Auf einmal macht es „Klick“ und etwas Neues ist „auf einmal“ „wie von selbst“ und „unverlierbar“ dar. „Wie kommt der Pastor dazu, eine Eucharistiefeier zu feiern, nur weil er da ist – wir feiern hier doch immer eine Wort-Gottes-Feier!“ Solchen Normalitäten sind teilweise heftige Lernerfahrungen, ermüdende Lernschleifen und fest eingeplante Lernzeiten vorausgegangen.

Die kulturelle Prägung einer Organisation ist kein Schalter, den man umstellen kann. Kulturprägung, Kulturentwicklung, Kulturwandel ist ein fortlaufender (Lern-)Prozess. Entsprechend braucht es Prozessmethoden, um Kultur zu beeindrucken. Anders gesagt: Es braucht ganz schön lange, bis das z.B. von der Führung schon wiederholt angebotene, neue kulturelle Set wirklich angekommen ist.

Deswegen empfiehlt die Organisationsentwicklung, das „Neue“ nicht auf einen Schlag zu präsentieren. Im schlimmsten Fall wird es ein Strohfeuer. Sinnvoller ist es, in kleinen Projekten, in ausgerufenen Experimenten und mit sanften Stupsern ständige Anreize zu schaffen.Beispiele? Angenommen, eine Organisation möchte agiler werden. Sie löst deswegen von Zeit zu Zeit, punktuell, aber erlebbar die Formalstruktur auf: Drei Mitarbeiter werden eine Woche von der sonstigen Arbeit freigestellt und können mit 3.000 Euro für die Organisation nachhaltige Dinge umsetzen, wie sie wollen. Wie reagiert die Gesamtorganisation darauf? Oder angenommen, der Teamcharakter von Arbeitsgruppen soll gestärkt werden. Dazu könnte man die Formalstruktur enger ziehen: Der Chef vereinbart mit seinen Abteilungsleitern eine tägliche Präsenzzeit bei seinen Mitarbeitern mit Lohnauswirkungen bei der Überprüfung der Umsetzung dessen.

Abschlussgedanken


Das andere Betriebssystem

Veränderung in der Organisationskultur – das ist kein Update, sondern ein Upgrade des Betriebssystems. Im Gegensatz zu den Sicherheitspatches oder der Erweiterung von Funktionen auf der Grundlage des bisherigen Programmcodes ist ein Upgrade ein tiefer Eingriff in das System. Es wird sogar zwischenzeitlich ganz heruntergefahren. Wer macht das schon gerne.

Was sind typischerweise Anzeichen für eine beginnende Veränderung? So komisch es klingt: Irritationen, Missverständnisse und Widerstände – wenn sie genutzt werden, an ihnen das Neue kenntlich zu machen. Man kann Veränderungen nicht ohne Konflikte herbeiführen.10 Konflikte – gar nicht mal der große Krach, eher die kleinen Ungereimtheiten – sind Einladungen für das Aushandeln neuer Unter- und Entscheidungen. Sonst wird nichts anders.

Kultureller Wandel statt Kulturwandel

Es gibt lustige Beispiele dafür, dass Satzzeichen Leben retten können („Komm, wir essen, Opa“). Eine scheinbar kleine, aber keineswegs belanglose Umstellung möchte ich auch vorstellen.

Vielleicht ist aufgefallen, dass in diesem Beitrag immer weniger die Rede vom „Kulturwandel“ war. Denn die Rede vom „Kulturwandel“ steht in der Gefahr, der oben genannten Gestaltungsillusion zu erliegen. Es klingt, als sei Kultur wandelbar – im Sinne eines Zugriffs darauf.

Bei allem Bemühen: Kultur bekommen wir nicht in den Griff. Und es ist nie die Kultur, die wir beeinflussen können, sondern nur die Dinge, von denen wir meinen, sie wären die Kultur.

Deswegen bevorzuge ich die Rede vom „kulturellen Wandel“, also mit der Betonung auf „Wandel“. Oder rede von der Veränderung der Organisationskultur, mit Betonung auf „Organisation“ als einer wahrnehmbaren Wirklichkeit. Denn Organisationen sind gestaltbar – ganz konkret in Wort, Zeichen, Haltung, Tat, Lernen und Verlernen. Und systemisch ist sicher: Kultur wird auf Veränderung reagieren. Mal schauen, wie und ob uns das unserem Zielfoto näherbringt.

Was Kirche von der Telekom lernen kann

Organisation und Kultur stehen in einem Wechselverhältnis, bei dem es weder um einen Aktionsplan noch um passives Abwarten geht. Beispiel gefällig? Was war zuerst da, das Smartphone oder der alltägliche Umgang damit?

Weil es bestimmte technische Möglichkeiten, massenkompatible Nutzerinterfaces und eine für die meisten leistbare Preiskalkulation gab, entstand etwas von dem wir heute erstaunt fragen: „War es auch mal anders?“ Die jüngere Generation stellt sich selbst diese Frage nicht mehr. Stichwort Normalitätsmodell.

Die Telekommunikationsindustrie wollte dabei gar keinen Kulturwandel, sondern nur ihre Produkte dem Markt präsentieren und aus Neugier, Interesse und Bedarf Bedürfnisse, neudeutsch: Erlebnisse, schaffen. „Passiert“ ist ein kultureller Wandel. Für Unternehmen wie Apple oder die Telekom ist der kulturelle Wandel dabei zwar hilfreich, aber kein Indikator für ihren unternehmerischen Erfolg.

Aber eine Organisation, die sich entwickelt, wirkt verändernd auf ihre Kultur.

Als kirchlicher Organisationsberater ermuntere ich uns also dazu, aus dem doch längst stattgefundenen Lernen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte mit Mut zum Wandel den neuen Alltag zu machen. Lust auf ein Upgrade? Das geht nicht ohne kritische Reflektion, theologisch-geistliche Fundierung, gemeinschaftliche Diskussion, das geht auch nicht ohne Erlaubnis, das geht nicht ohne Verlust im Sinne einer Verhältnisbestimmung von Innen und Außen („Wer gehört dazu? Wer nicht?“). Die gesellschaftliche Diskussion um die Frage nach der AfD – Integration oder Exklusion? – zeigt, wie beschwerlich, langsam, anstrengend und wenig lustvoll das ist.

Kultur ist die seriöse Präsenz des Geistes Gottes

Zum Schluss sei noch einmal zugespitzt, worum es in der kirchlichen Organisation geht. Für welches Ziel schafft sich die Gemeinschaft der Jesu-Nachfolger und Christusträger eine Organisation? Dieses Ziel hängt an keiner bestimmten Kultur, keinem spezifischen „cultural fit“. Gott ist in jeder Kultur schon gegenwärtig. Entspannt euch.

Der Weg

Die Stadtplaner hätten also die deutlich erkennbare Wegefindung der Menschen besser einschätzen können als ein bestimmtes und unter den Gesichtspunkten der Stadtplaner vernünftiges Wegekonzept umzusetzen. Der befestigte Weg würde dann vielleicht etwas anders verlaufen, dabei aber mehr von der Wegekultur der Menschen anerkennen. Es wäre ein befestigter Weg gewesen. Und er würde die Wiese schützen.

Fussnoten

Dem essayistischen Stil des Textes entsprechend, verzichtet dieser auf eine wissenschaftliche Zitation. Die Autor*innen sind aber benannt und die Quellen in der Literaturliste aufgeführt.

Siehe zum Beispiel www.bistum-muenster.de/kulturwandel – Die Platzierung des Begriffs „Kulturwandel“ in den Entwicklungsprozessen im Bistum Münster, in dem ich beruflich tätig bin, ist der Anlass für diesen Beitrag, eine konstruktive Auseinandersetzung damit mein Ziel.

Siehe hierzu den Praxisbeitrag „Unternehmenskultur verstehen: Modelle für die Diagnose“ in der Zeitschrift changement.

Simon Sagmeister stellt eine Canvas dazu bereit. Darin arbeitet man sich Schritt für Schritt durch die Feldbereiche „Heute“, „Kontext“, „Zielbild“ mit seinen erforderlichen Fähigkeiten und „Steuerung“. – Das klingt ein wenig zu sehr nach Anleitung, doch es ermöglicht eine umfassende Reflektion.

In der Tat erzielt Storytelling in Veränderungsprozessen beeindruckende Wirkung – die ganze Bibel ist voll davon.

Und auch ein Wandel in der Steuerung von Kommunikation. Die Unternehmensführung wird dabei prognostizierend eher Kommunikationsräume bereitstellen als diese direkt zu füllen. Vgl. das Interview mit den Unternehmensgründern Maier/Maurer in der Zeitschrift changement. Grundsätzlich dazu: Frederic Laloux: Reinventing Organizations. Der Sorge, in der kirchlichen Struktur sei eine selbstorganisierende Steuerung von Kommunikationen nicht möglich, sei mit dem Hinweis begegnet, sich mal anzuschauen, welche Kommunikationsräume Papst Franziskus im Vatikan geschaffen hat. Synodalität und Episkopalität hält er in einer Balance, die Vertreter der jeweiligen Extreme (Mehr Synodalität! Mehr Episkopalität!) gleichermaßen irritiert – also etwas drittes, neues schafft.

Schön klingend sind auch die Betitelungen „Kultur-Accelerator“ und „Cultural Evangelist“.

8 All diese Dinge würden dem Wunsch der Bundesbeauftragten für Kultur, Monika Grütters, ähneln, Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern.

Bei aller Vorsicht aufgrund der rezepthaft klingenden Vorschläge sei auch auf diese Zusammenstellung von Kulturwandel-Konzepten verwiesen: https://organisationsberatung.net/kulturwandel-kulturveraenderung-unternehmenskultur-veraendern/

10 Siehe dazu gute Anregungen zur kulturellen, hier: emotionalien, Konfliktbearbeitung bei Jack Bramlage / Christian Julmi: Der richtige Ton. Wie Konflikte auf emotionaler Ebene gelöst werden. In: Zeitschrift Organisationsentwicklung, Nr. 3/2018, Seiten 47ff.

Literatur

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Beck, München 2007.

Winfried Berner: Change! 15 Fallstudien. Schäffer-Poeschel, Stuttgart 2010.

Valentin Dessoy: Auf dem Weg zu einer visionären Praxis. Syntax nachhaltiger Kirchenentwicklung. In: Peter Hundertmark / Hubertus Schönemann: Pastoral hinter dem Horizont. Eine ökumenische Denkwerkstatt. KAMP kompakt 6. Erfurt, 2018.

Klaus Doppler: Change Management. Campus, Frankfurt/Main 2008.

Christina Grubendorfer: Einführung in systemische Konzepte der Unternehmenskultur. Carl-Auer, Stuttgart 2016.

Paul Hüster: Kulturdialoge – ein Instrument der Kulturanalyse. In: Paul Hüster / Hans Hobelsberger / Andrea Hellwig (Hg): Christliche Organisationskultur prägen. Ansätze im kirchlichen Gesundheitswesen. Lambertus, Freiburg 2016.

Stefan Kühl: Organisationskulturen beeinflussen. Eine sehr kurze Einführung. Springer, Wiesbaden 2018.

Paul F. Röttig: Organisationskultur der katholischen Kirche. Kulturwandel als notwendiges Kriterium der Kirche in der sich verändernden Welt von heute. Echter, Würzburg 2017.

Simon Sagmeister: Business Culture Design. Campus, Frankfurt/Main 2016.

Edgar H. Schein: Organisationskultur. EHP, Gevelsberg 2010.

Martin Schleske: Der Klang. Kösel, München 2010.

Christian Scholz / Wolfgang Hofbauer: Organisationskultur. Gabler, Wiesbaden 1990.

Unsere Seelsorge, Hrsg. Hauptabteilung Seelsorge, Generalvikariat Bistum Münster: Bleibt alles anders!? Kirchenentwicklung als Kulturwandel. Münster 2018.

Zeitschrift changement, Ausgabe 6/2017: „So machen wir das hier“ – Unternehmenskultur.

Beitragsfoto

pixabay / distel2610


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