Mensch, ändere dich! – Über die Führung in kirchlichen Entwicklungsprozessen

Ein visionäres Zukunftspapier ist gut. Eine gelebte Umsetzung des Inhalts noch besser. Doch wie kommt man eigentlich vom beschriebenen Papier zum gelebten Alltag? Und was hat die verantwortliche Führungskraft dabei zu bedenken? – Ein paar Denkanstöße zur Führung des Wandels zwischen Charisma und Struktur.

Aus dem Papier muss Leben werden.

In vielen Bistümern wurde in der vergangenen Zeit intensiv an Zukunftskonzepten gearbeitet, an einer neuen Art und Weise, wie Kirche zukünftig „gehen“ könnte.

So wurde beispielsweise im Bistum Trier in einem eindrucksvollen synodalen Prozess ein richtungsweisendes Dokument erarbeitet, das durch Bischof Ackermann unmittelbar als Rahmen für das zukünftige Handeln im Bistum in Kraft gesetzt wurde.

Oder im Bistum Hildesheim: Nach einer Phase des Experimentierens und Auslotens neuer kirchlicher Gestaltungsformen und -arten steht nun eine weitere Ausbreitung der Lokalen Kirchenentwicklung im Bistum an.

Die Frage, die beide Bistümer eint, ist: Wie kommen wir eigentlich von dem geschriebenen Papier zur gelebten Umsetzung?

Kirchenentwicklung ist Kulturwandel ist Identitätswandel

Wenn es früher hieß, Kirche sei im Wandel, dann war oft damit gemeint, es sei „nur die Organisation“, die sich ändern würde. Das war zwar auch damals schon recht kurzgegriffen, denn eine Änderung von Systemen ist immer auch eine Änderung von Menschen, doch spätestens seit dem Wort der deutschen Bischöfe „Gemeinsam Kirche sein“ hat sich der Fokus geweitet: Kirchenentwicklung ist Kulturwandel geworden. Dies zeigen auch deutlich die Prozesse in Trier und Hildesheim.

Ein Kulturwandel ändert die gemeinsam geteilten Grundprinzipien einer Gemeinschaft. Das ist deutlich mehr als „nur die Organisation“, denn es betrifft jeden Einzelnen in der Gemeinschaft: Die gemeinsam geteilten Grundannahmen sind das, was dem Einzelnen in der Gemeinschaft Sicherheit gibt. Die über Jahre verinnerlichte Kultur ist auch Teil der eigenen Identität geworden.

Kulturwandel in einer Organisation bedeutet Identitätswandel des Einzelnen.

Im Fokus der Änderung steht somit vor allem der Mensch und an zweiter Stelle erst die Organisation. Mit dieser Erkenntnis rückt aber unweigerlich ein Thema in den Fokus: Das Thema Führung, genauer gesagt Menschenführung.

Ein gewünschter Kulturwandel kann nicht wie Strukturen einfach qua Amtsblatt in Kraft gesetzt werden. Es braucht einen mittel- bis langfristigen Lern- und Anpassungsprozess für die Mitglieder der Organisation. Dies wird ohne eine explizite Führung der Menschen und ohne eine stabilitätsgebende Prozessstruktur nicht funktionieren.

Die drei wichtigsten Aspekte des Wandels:

Führung, Führung, Führung

Dabei wird eine der größten Herausforderungen meines Erachtens eine immense Ungleichzeitigkeit sein. Ein Kulturwandel ist leider nicht wie ein Kindergartenausflug, in dem alle gleichzeitig, schön geordnet, in Zweierreihen zum Spielplatz laufen.1 Die Erfahrung zeigt, dass in der Realität einige wenige schon recht früh auf dem neuen Spielplatz sein werden, manche werden sich erst gerade auf den Weg gemacht haben, die große Masse aber hat noch nichts von dem Ausflug mitbekommen oder schaut ängstlich auf die Tür, durch die es jetzt gehen soll.

In der Führung solcher Veränderungsprozesse gilt es daher zuerst einmal wahrzunehmen und zu unterscheiden: Wo steht die Person oder die Gruppe die im Wandel begleitet werden soll? Was braucht sie überhaupt für eine Führung?

Eine Orientierung kann ein recht einfaches Modell nach Balogun et al.2 bieten. Hiernach kann der Veränderungsprozess einer Organisation zwischen dem jetzigen und dem zukünftigen Zustand in drei Phasen unterteilt werden:

  1. Mobilisieren und aufbrechen
  2. Bewegen und erneuern
  3. Festigen und erhalten

So trivial diese Dreiteilung auch anmuten mag, so unterschiedlich sind doch die Anforderungen an die Führung des Prozesses in den jeweiligen Phasen.

Phase 1: Mobilisieren – Den Menschen die Angst nehmen

Aller Anfang ist nicht nur sprichwörtlich schwer: Da wurden schicke Zukunftsbilder geschrieben und Visionen skizziert, wie „Kirche gehen könnte“. Aber ach, oh Schreck, so einfach geht es dann doch nicht. Das (Zukunfts-)Papier ist geduldig und die gelebte Umsetzung noch weit weg.

In dieser Phase zeigen sich üblicherweise Symptome wie Beharrung im derzeitigen Status, fehlende Energie für Veränderung, Ausweichen in Scheindebatten oder Aufschieben von Entscheidungen.

Um dieses Phänomen zu verstehen und es als Führungskraft angehen zu können, ist eine psychologische Betrachtung der Situation hilfreich: Die Emotion, die hinter Beharrung & Co. liegt, ist letztendlich die Angst. Je weitreichender die von außen gewünschte Änderung ist und je mehr diese Änderung die eigene Identität des Einzelnen berührt, desto stärker wird die Angst sein.3

Eine wesentliche Aufgabe einer Führungskraft in dieser Phase ist die Angstbindung bei den Geführten. Daher empfiehlt sich hier die charismatische Führung als Führungsinstrument.

Aufbruch braucht Charisma

Eine charismatische Führungskraft erzeugt das notwendige Vertrauen, dass sie die richtige Person ist, um die Probleme (Ängste) zu lösen und dass die nun anstehenden Anstrengungen gerechtfertigt und notwendig sind. Bei der charismatischen Führung steht die Vermittlung der Sinnhaftigkeit des geplanten Wandels im Vordergrund bei gleichzeitiger Bündelung der emotionalen Reaktionen, damit diese für die Organisation hilfreich sind.4

Ein Bistum tut also gut daran, in dieser Phase des Wandels seine Charismatiker in den Fokus zu stellen. Denn gerade hier braucht es Menschen, die durch ihre Person und ihr Handeln andere Menschen vom Aufbruch überzeugen und Ängste überwinden können.

Wer neue Strukturen schafft, erzeugt Ängste

In den Zeiten des Aufbruchs ist Charisma wichtiger als Struktur. Neue Strukturen binden keine Ängste, sondern erzeugen welche, da sie (meist adhoc) eine Änderung der eigenen Identität erzwingen. Wer als Führungskraft einen Änderungsprozess mit neuen Strukturen beginnt (Stichwort XXL-Pfarreien, Pastorale Räume, etc.) vergrößert eher die Ängste, als dass er sie bindet!

Damit möchte ich nicht sagen, dass dieser Schritt grundsätzlich falsch ist. Es kann gute Gründe geben, zuerst Strukturen zu ändern und dann erst einen Kulturwandel zu initiieren. In Unternehmen ist dies nicht selten ein Weg, um in einer Krise die Handlungsfähigkeit zu erhalten oder schnell Kosten zu senken.

Die Führung muss sich dabei der Konsequenz im Klaren sein, dass dieser Schritt bei den Mitgliedern der Organisation Vorbehalte und Ängste auslöst und muss diese „Kosten“ gegen andere abwägen.

Phase 2: Bewegen – Rahmen und Orientierung geben

Ist der Aufbruch gelungen und die Menschen „in Bewegung“ gebracht, so geht es in die Transformation. Spätestens hier kommt wieder die zu Beginn formulierte Vision ins Spiel. Diese ist wichtig, um in der Phase der Bewegung ein Ziel zu haben, auf das man die Menschen hinbewegen will.

Doch um anknüpfungsfähige Orientierung zu geben, darf die Vision nicht im Allgemeinen bleiben. Eine wirkungsvolle Vision muss für die Geführten verstehbar und verheißungsvoll sein. Sie muss Lust machen, das beschriebene Ziel auch erreichen zu wollen.

Derzeit oft gehörte Visionssätze von einer Kirche, in der sich die Getauften ihrer Taufwürde bewusst werden und aufgrund ihrer Sendung das Evangelium verkündigen, scheinen mir weder verstehbar noch verheißungsvoll zu sein. Hier muss doch noch einiges für den jeweiligen Ort oder das jeweilige Bistum „entfaltet“ werden.

Allerdings muss eine Vision aber auch nicht von Beginn an bis ins letzte durchdekliniert sein. Die endgültige Gestalt der neuen Kultur darf sich auch erst im Verlauf des Prozesses entwickeln. Ich halte es daher in der zweiten Phase für immens wichtig, einen eindeutigen und transparenten Weg für den Prozess skizziert zu haben. Dies meine ich weniger im Sinne einer strikten inhaltlichen Festlegung, sondern mehr im Sinne eines definierten Prozessablaufes.

Die Führung eines solchen Prozesses muss in dieser Phase inhaltliche und strukturelle Leitplanken aufstellen, die eine grobe Richtung weisen und in dem sich die Geführten sicher und unter geklärten Regeln bewegen können.

Somit ändern bzw. erweitern sich in der zweiten Phase die Instrumente der Führung: Die zu Beginn stark charismatisch orientierte Führung muss nun stärker in Richtung einer strukturgebenden Führung gelenkt werden. Es braucht ein strukturelles Prozessgerüst das Handlungssicherheit und Orientierung gibt. Die Geführten müssen wissen, was sie tun können, um ans Ziel zu gelangen.

Lernen und Experimentieren

Ein zentraler Grundgedanke für die Entwicklung der Kirche in dieser Phase ist für mich der Gedanke des Lernens. Wir können nur durch ein bewusst gestaltetes Experimentieren herausfinden, welche konkrete Gestalt von Kirche zukünftig tragfähig sein wird.

Daher sind Pilotprojekte für mich ein wichtiger Bestandteil diese Phase. Klar definierte und zeitlich begrenzte Experimente, um neue Dinge zu entwickeln und zu erproben, die der Vision zur Umsetzung verhelfen.

Das erlaubte Scheitern gehört meines Erachtens unweigerlich zum Experimentieren dazu, denn auch aus vermeintlichen Fehlschlägen können Erkenntnisse gewonnen werden.

Das setzt natürlich voraus, dass es einen positiven Umgang mit Fehlern gibt und dass aus den Fehlern auch tatsächlich gelernt wird. Fehler müssen – im positiven Sinne – Auswirkungen auf das Handeln eines Bistums oder einer Pfarrei haben. Daher steht am Ende einer Pilotphase auch zwingend die Entscheidung, welche Konsequenzen die Ergebnisse für die Gesamtorganisation haben.

Phase 3: Festigen – Es muss wieder Alltag werden.

Nach dem charismatischen Aufbruch der ersten und dem begleiteten Lernen der zweiten Phase tritt nun noch stärker die strukturelle Führung in den Mittelpunkt. In der dritten Phase geht es darum, die neue Gestalt der Organisation zu festigen und zu erhalten. Aus dem Experiment muss Alltag werden.

Das, was gut ist, in Strukturen gießen

Dieser Alltag kann aber nicht allein durch charismatische Führung und Experimente erzeugt werden: Das Wesen der charismatischen Führung, über ein individuelles Beziehungsgeschehen zu funktionieren, reicht nicht aus, um auf Dauer und in der Fläche wirksam zu sein. Auch die Pilotprojekte und Übergangsphasen sind nicht Alltag, sondern meist „Ausnahme-Zustände“. Sie leben davon, dass sie abseits der (alten) Norm sind und so mancher „work around“ akzeptiert wird.

Um wieder in den Alltagsbetrieb zu kommen, braucht es aus Sicht der Führung Stabilität und Kontinuität. Dies erreicht eine Führungskraft indem sie einen strukturellen Rahmen für das neue Alltagsgeschäft schafft. Kernaufgabe der Führung ist daher in dieser Phase, das, was sich im Experiment und im Übergang als tragfähig erwiesen hat, zu verstetigen und im Alltag strukturell zu verankern.

Es geht um Regeln für den Alltag der Organisation, um ihren Aufbau und ihre Abläufe, um Beziehungen, Prozesse, Ressourcen, etc. Die Verbreitung und Festigung des Aufbruchs in der Fläche und in der Zeit erfolgt über Strukturen!

Neue Kultur entsteht

Übrigens: Genau dies ist auch ein Weg wie in Organisationen Kultur geschaffen werden kann: Wenn aus einer geteilten Vision gelebte Struktur geworden ist, so ist die Grundlage gelegt, dass über die Zeit die neuen Verhaltensweisen von den Einzelnen verinnerlicht werden und somit als Kultur in der Organisation weiterleben.

Kulturwandel: Charisma eröffnet und Struktur festigt neue Kultur

Führung im Kulturwandel heißt zunächst differenzieren: Wer braucht wann welche Art der Führung? Führung im Kulturwandel heißt eine Balance zu finden aus angstbindendem Charisma und sicherheitgebender Struktur:

  • Die charismatische Führung schafft den visionären Aufbruch, indem sie Ängste bindet und Energien erzeugt, um die Beharrung zu überwinden.
  • Die strukturelle Führung lenkt die Energien in die richtige Richtung und verleiht dem Wandel Wirksamkeit und Nachhaltigkeit. Sie legt die Grundlage für eine neue Kultur.

Ein erfolgreich geführter Wandel – vom geschriebenen Zukunftspapier zur gelebten Umsetzung – braucht Charisma und Struktur, jedes zur rechten Zeit und im rechten Maß.

Noch ein Blick auf Trier und Hildesheim

Wenn ich unter diesem Gesichtspunkt noch einmal auf die eingangs erwähnten Bistümer Trier und Hildesheim schaue, so scheinen die beiden Bistümer recht komplementär unterwegs zu sein:

Trier erscheint mir (aus der Distanz betrachtet) insbesondere in der strukturellen Prozessgestaltung stark zu sein. So ist es durch ein gutes Synodengerüst gelungen, ein wegweisendes und „Geist-reiches“ Dokument für die Zukunft des Bistums zu erstellen.

In Hildesheim nehme ich eine hohe visionäre und charismatische Energie wahr, die es schafft, Menschen für einen Wandel zu begeistern. Durch Experimentieren und Lernen ist mit der lokalen Kirchenentwicklung aus einer „ersten Idee“ über die Jahre eine pastorale Linie für das Bistum entstanden.

Vielleicht können beide Bistümer, weil sie sich scheinbar ergänzen, auch gut von einander lernen:

Mit der in Trier bald beginnenden Umsetzungsphase wird man Menschen über die Synode hinaus mobiliseren müssen. Dies wird neben einer guten Prozessstruktur auch eine gehörige Portion Charisma benötigen, damit der Aufbruch in der Fläche in Gang kommt und Beharrung überwunden wird.

Innerhalb der Synode scheint dies gelungen zu sein (bspw. durch den charismatischen Vortrag von Pater Franz Meures SJ), aber die 279 Synodalen sind nur gerade mal 0,2% der Gottesdienstbesucher und gar nur 0,02% aller Getauften im Bistum Trier. Um den Geist der Synode in die Fläche zu bekommen, wird das Bistum Trier in das Charisma seiner Führungskräfte und Multiplikatoren in den Dekanaten und Pfarreien investieren müssen.

Auch wird man durch gezieltes Experimentieren schauen müssen, wie die neue Gestalt der Kirche von Trier konkret aussehen und lebbar werden kann. Dies braucht einen Freiraum jenseits der Strukturen.

In Hildesheim erfolgt der Wandel überwiegend emergent, in dem Sinne, dass er sich aus dem konkreten Tun schrittweise ergibt. Damit die Idee der Lokalen Kirchenentwicklung in der Fläche erfolgreich umgesetzt werden kann, bedarf es einer mittel- bis langfristigen Prozessarchitektur, die gezielt auf ein „Ausrollen“ der Loki-Idee im Bistum hinarbeitet. Ebenso braucht es, als den nächsten Schritt nach den Pilotprojekten, eine „Struktur-Werdung" der neuen „LoKi-Gestalt“ für den Alltag in den Pfarreien.

Dies wird durch eine charismatische Führung allein nicht gelingen können, sondern braucht mehr strukturelle Führung. Hier wird das Bistum Hildesheim investieren müssen, damit der charismatisch erreichte Aufbruch nicht verpufft und die schon vorhandenen Ergebnisse durch eine festigende Struktur gesichert werden.

Fazit: Kirchenentwicklung ist Kulturwandel ist Identitätswandel ist Führungsaufgabe

Wer die Grundgedanken der derzeitigen Linie der Kirchenentwicklung – sei es „Gemeinsam Kirche sein“ oder seien es diözesane Papiere – ernst nimmt, der kommt um einen Kulturwandel in der Kirche nicht mehr herum.

Wer aber die Kultur in der Kirche ändern will, der muss die Identität der einzelnen Mitglieder ändern. Es ist Aufgabe der Führungskräfte in der Kirche diesen Identitätswandel mit charismatischen und strukturellen Instrumenten zu begleiten.




  1. Dies ist in keinster Weise abwertend gemeint, sondern das Bild hat seinen Sitz in meinen derzeitigen Lebenskontext. 🙂 ↩︎
  2. Vgl. Balogun et al.: Exploring Strategic Change, Pearson, 2016, S.146 ↩︎
  3. Vgl. Paschen, Dihsmaier 2011: Psychologie der Menschenführung, Kap.2 ↩︎
  4. Vgl. ebd. ↩︎


Foto: (c) Michael Bonert


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